Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Welt ist voller Drängler und Wunder
Betrachtung Wenn Impfdosen fehlen, brauchen wir eben mehr Impfdosen-Reste
Praktisch ist es ja so: Umgekehrt proportional zu der Dringlichkeit, mit der unsere Bundeskanzlerin Geduld einfordert, scheint die Ungeduld in Form drängelnder Bürger anzuschwellen. Angela bittet, doch der gemeine Deutsche ruft: „Ich zuerst“, und ist schon fünf Schritte weiter, als es sich Frau Merkel zum Schutze aller träumen lässt. Fünf Schritte weiter: manchmal in Sachen Selbstbefreiung von Corona-Auflagen, manchmal in Sachen privatim vorgezogener Impfung.
Ja, der Drängler. Eine besondere Spezies, voll der Eilfertigkeit. Einst war der Drängler auf der A8 mit Hupe, Lichthupe und Auf-denPelz-Rücken hinter einem. Mit ein bisschen Mut und Geschicklichkeit konnte er hin und wieder ausgebremst werden. Jetzt aber ist das Erscheinungsbild des Dränglers neu einzuordnen. Jetzt hat der Drängler ja längst überholt. Jetzt gehört zu seinem Wesen, dass er längst zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war – bevor sich andere erst noch versuchen zu orientieren.
Der richtige Zeitpunkt am richtigen Ort. Das sind derzeit Heime und reguläre Impfzentren, kurz vor Feierabend. Man staunt, wie viel da zum Zapfenstreich – bei Abermillionen Impfwilliger – regelmäßig liegen und übrig bleibt.
Und so ereignet sich derzeit in einigen Bundesländern quasi ein vorösterliches Wunder. Die liegen gebliebenen Reste reichen nicht nur für manche mittelkopferten christlichen Politiker – selbst wenn sie nicht aktiv den Drängler geben wollen –, sie reichen sogar auch für Stadtrats-Segmente, ja ganze Polizei-Mannschaften. Zusammengenommen sind diese gleichsam vorlaufende Vorbilder im Sinne der Durchimpfung der Bevölkerung. Sie nehmen Reste auf sich, die sonst im Abfall landen. Haben die Eltern nicht immer gepredigt: Es wird aufgegessen. Wir lassen nichts verkommen. Gut so.
Bleibt die Frage: Wie kommt nun die 84-Jährige, auch wenn sie gläubig ist, an die liegen gebliebene halbe Kartoffel, die den Jüngeren, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren, nicht mehr aufgenötigt werden konnte?
Einerseits wird das Drängeln – außer auf der A8 – derzeit noch nicht bestraft, und die zehn Gebote befassen sich mit anderem als Drängelei und gut funktionierenden Beziehungskisten unter denjenigen, die Muffensausen haben, allzu früh an der Himmelspforte um Einlass klopfen zu müssen.
Tja, für die 84-Jährige bedarf es wohl eines weiteren Wunders. So etwa nach Art der Hochzeit zu Kana, wo sich seinerzeit eine nicht unbeträchtliche Menge an Wasser in Wein verwandelte, oder nach Art der Speisung der 5000 am See Genezareth, wo plötzlich von fünf Broten zwölf Körbe voller Krumen übrig blieben. Damit ließ sich schon damals viel weiteres Gutes tun. Nur, der 84-Jährigen sei’s geklagt: Wunder dauern für sie derzeit etwas länger.
Im Moment ist die Dame noch angewiesen auf die, die trotz der Bedeutung ihres hohen Amts sagen: Anstellen ist seliger denn Drängeln!