Augsburger Allgemeine (Land West)
„Die offene Gesellschaft nimmt Schaden““
Interview Der Zeithistoriker René Schlott kritisiert heftig die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Er sieht die Grundrechte der Bürger durch die Politik ausgehebelt und prophezeit eine bleibende „Angstrhetorik“
Herr Schlott, wann haben Sie das erste Mal im Verlauf der Corona-Pandemie öffentlich das Wort ergriffen? Erinnern Sie sich noch?
René Schlott: Selbstverständlich, das war vor gut einem Jahr, am 17. März 2020, am Beginn des ersten Lockdowns, als ein Zwischenruf von mir in der Süddeutschen Zeitung als Feuilletonaufmacher erschien. Ich hatte den Beitrag einige Tage zuvor verfasst und dann an mehrere Redaktionen geschickt. Das war für mich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Davor hatte ich ab und an Rezensionen und Fachartikel für Zeitungen und Internetportale geschrieben, mich aber nie in öffentliche Debatten eingebracht. Am Beginn der Krise hatte ich aber den Eindruck, dass niemand öffentlich Kritik an den Maßnahmen und ihren möglichen Nebenfolgen äußert, und das hielt ich für wichtig, damit die „offene Gesellschaft letztlich nicht erwürgt wird, um sie zu retten“, wie ich damals schrieb.
Diese Sorge hat Sie nicht verlassen? Schlott: Sie ist angesichts von „Verweilverboten“, Grenzkontrollen und Polizeieinsätzen bei Kindergeburtstagen eher noch größer geworden. Ich musste in den letzten Monaten oft an eine Zeile aus Bertolt Brechts aufrüttelndem Gedicht „Lob der Dialektik“denken, das an meiner Bürotür hängt: „Das Sichere ist nicht sicher.“
Sie sagen, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Idee einer freien Gesellschaft zerstören. Schlott: Die Gefahr besteht durchaus, wenn die Grundrechte etwa auf Versammlungs-, Kunst- und Religionsfreiheit über viele Monate eingeschränkt werden und die Menschen das nur noch achselzuckend hinnehmen, weil längst ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass die Freiheit sich zeitweise aussetzen lässt, ohne dass sie Schaden nimmt und die offene Gesellschaft dies unbeschadet übersteht. In jedem Fall haben wir unser Lebensmodell und die Idee der freien Gesellschaft mit den in diesem Ausmaß bislang nie da gewesenen Maßnahmen auf Dauer zur Disposition gestellt. Die volle Geltung aller Grundrechte hängt fortan von der Kapazität der Intensivstationen und der Entwicklung der Virusvariationen ab. Selbst wenn wir nach einer erfolgreichen Impfkampagne zu einem Status quo ante Corona zurückkehren, gilt der nur so lange, bis eine nächste mögliche Pandemie auftritt.
Wo entsteht der Schaden?
Schlott: Zuallererst im alltäglichen Zusammensein und in der menschlichen Kommunikation. Was für uns selbstverständlich war, Menschen physisch zu begegnen, sie zu umarmen, ihnen die Hand zu geben – ist es nicht mehr. Alle Mitmenschen, sogar die Kinder, wurden in den letzten Monaten auf ihre Rolle als potenzielle Virenlastträger reduziert. Die Angstrhetorik wird so schnell nicht aus den Köpfen verschwinden, wonach der andere eine Gefahr für mich ist allein dadurch, dass er atmet und mir zu nahe kommt.
Dass Menschen in einer Pandemie Angst vor der Ansteckung und dadurch auch vor anderen Menschen entwickeln, liegt doch in der Natur der Seuche und nicht in den staatlichen Maßnahmen.
Schlott: Ich kritisiere, dass staatlicherseits und von einem großen Teil der Medien der Fokus stets und ständig auf die Gefährlichkeit und die potenzielle Mortalität des Virus gelegt wird und zum Beispiel weniger auf die Zahl der Genesenen. Heribert Prantl hat das als „virologisch-publizistisch-politischen Verstärkerkreislauf“bezeichnet, den es meines Erachtens schnellstens zu durchbrechen gilt.
Sie stützen Ihre Kritik an der gängigen Corona-Politik auch mit einem Blick auf das Grundgesetz. Könnten Sie das kurz erläutern?
Schlott: Die Politik konzentriert sich ausschließlich auf einen einzigen Satz des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“(Artikel 2 Absatz 2. Satz 1) Grundrechte gibt es aber nur im Plural, sie umfassen die ersten 19 Artikel unserer Verfassung und müssen zu allen Zeiten gelten, gerade in Krisensituationen. Das gilt beispielsweise für die Freiheit der Kunst, die nicht einmal per Gesetz eingeschränkt werden darf und den Werk- und Wirkbereich umfasst. Das heißt, Kunstfreiheit bedeutet nicht nur, als Künstler in der Gestaltung seiner Werke völlig frei zu sein, sondern auch, diese darbieten und verbreiten zu können. Kunst muss also Öffentlichkeit finden dürfen, um „wirken“zu können. Natürlich ist bereits ein enormer Schaden für das kreative Potenzial unserer Gesellschaft eingetreten. Wer plant jetzt noch Veranstaltungen? Festivals, Ausstellungen und der Konzertbetrieb haben einen sehr langen Vorlauf. Da ist viel an Zuversicht und Planungssicherheit verloren gegangen. Denn noch bevor der aktuelle Lockdown zu Ende geht, wird ja nicht ausgeschlossen, dass es einen neuen geben könnte.
Sie machen sich stark für einen anderen Umgang mit der Pandemie. Was ist Ihre Forderung?
Schlott: Den anhaltenden Irrtum über den Wesenskern von Artikel 2 unserer Verfassung zu beenden. Das dort festgehaltene Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wurde seinerzeit vom Parlamentarischen Rat 1948/1949 mit Blick auf den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch als Abwehrrecht der Bürgerinnen und Bürger gegen einen übermächtigen Staat formuliert, dem Todesstrafe und Folter, ja sogar die Androhung von Folter, verboten sind. Der derzeit herrschende Tunnelblick in Politik und Medien vernebelt die Tatsache, dass Artikel 2 nie als Garantierecht des Staates gedacht war, um für die Gesundheit aller seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen oder gar die Freiheit von einem bestimmten Virustyp sicherzustellen. Eine solche Garantie konsequent zu Ende gedacht würde im – wie Thea Dorn es nennt – Fürsorgeradikalismus enden und das im Grundgesetz angelegte Staat-Bürger-Verhältnis komplett auf den Kopf stellen.
Was folgern Sie daraus?
Schlott: Meine Forderung ist, dass man die Gesamtheit der Grundrechte im Blick hat und nicht eine völlig einseitige Auslegung vornimmt, die viele Schäden an anderer Stelle anrichtet. Mittelfristig müssen wir dahin kommen, dass Corona wie ein Lebensrisiko neben anderen Lederzeit bensrisiken behandelt wird. Freiheit gibt es nicht ohne Risiko.
Gehen Ihnen die staatlichen Maßnahmen zu weit oder lehnen Sie die Maßnahmen insgesamt ab?
Schlott: Ich lehne den Lockdown als Mittel der Politik ab, er ist nicht alternativlos. Niemand wählt eine Regierung, um von ihr eingesperrt zu werden. Der Gesundheitsschutz ist neben dem Bildungsauftrag und dem Bereitstellen funktionierender Infrastrukturen nur eine von mehreren staatlichen Aufgaben, und der Gesundheitsschutz darf sich nicht nur auf eine Krankheit beziehen.
Aber es war doch der verschärfte Lockdown im Dezember, den Sie kritisieren, der bewirkt hat, das stark belastete Gesundheitssystem vor dem Kollabieren zu bewahren.
Schlott: Schauen Sie sich doch den Lockdown an, er begann im November mit dem Schließen von Theatern und Gastronomie, aber er hatte keinen Effekt, weil diese beiden Bereiche nicht maßgeblich zum Infektionsgeschehen beigetragen hatten. Was im November hätte geschehen müssen, wäre ein Schutz der Alten- und Pflegeheime durch konsequente Schnelltests gewesen.
Von dem Märztag vor einem Jahr haben Sie sich bis heute immer wieder öffentlich eingemischt. Wie hat das Ihr Leben als Wissenschaftler umgekrempelt?
Schlott: Ich bekomme eine Menge Zuschriften von ganz normalen Menschen, keinen Verschwörungstheoretikern, die ich alle beantworte. Die Nachrichten sind alle positiver Art. Viele sind dankbar, dass ich einen Gegenpol zur allgemeinen Medienberichterstattung vertrete. Ich habe inzwischen eine privilegierte Sprecherposition, über die viele andere nicht verfügen und die ich deshalb wahrnehmen muss. Dabei suche ich aber nicht die Öffentlichkeit um der Öffentlichkeit willen, viel lieber lese und schreibe ich im stillen Kämmerlein, ich mache das aus einer tiefen inneren Überzeugung. Als ehemaliger DDR-Bürger habe ich eine radikalere Freiheitsauffassung als die Mehrheit dieses Landes, wie ich ernüchtert feststellen musste. Was nutzt mir die Gesundheit ohne Freiheit? Oder wie Dostojewski es formuliert hat: „Das Geheimnis des menschlichen Seins besteht nämlich nicht darin, daß man lediglich lebt, sondern darin, wofür man lebt.“
Interview: Richard Mayr
René Schlott lebt in Berlin. Der Zeit historiker und Publizist hat sich seit dem ersten Lockdown im März 2020 wiederholt kritisch zur deut schen CoronaPolitik geäußert.