Augsburger Allgemeine (Land West)
Jung gegen Alt in der SPD
Wolfgang Thierse bietet Austritt an
Berlin Wolfgang Thierse ist ein Sozialdemokrat, der oft als „Urgestein“bezeichnet wird. Der frühere DDRBürgerrechtler war bis 2005 sieben Jahre lang Präsident des Bundestags und weitere acht Jahre dessen Vizepräsident. Jetzt sorgt der 77-Jährige für einen Paukenschlag und bietet der SPD seinen Austritt an. Hintergrund ist ein Streit, der in den Reihen der Genossen schon lange schwelt und viel mit deren Misere in der Wählergunst zu tun hat.
In einem Brief, von dem mehrere Medien übereinstimmend berichten, bittet Thierse Parteichefin Saskia Esken, ihm öffentlich mitzuteilen, ob sein „Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich“sei. Er spricht von Zweifeln, „wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung von mir distanzieren“. Gemeint sind Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert, die Thierse zuvor wegen angeblich rückwärtsgewandter und „beschämender“Äußerungen scharf kritisiert hatten. In dem Konflikt geht es um die sogenannte „Identitätspolitik“und die heftig umstrittene Frage, welche Rollen die Interessen von Gruppen wie Homosexuelle oder Menschen mit Migrationshintergrund spielen sollen.
In einem Gastbeitrag für die FAZ hatte sich Thierse gegen eine rechte, aber auch eine linke „Cancel-Culture“ausgesprochen. Der Begriff bezeichnet das Phänomen, dass etwa Redner oder Wissenschaftler, deren Positionen eine bestimmte Gruppe für inakzeptabel oder übergriffig hält, von Veranstaltungen, Diskussionen oder Rednerauftritten ausgeladen werden. Thierse schrieb: „Menschen, die andere, abweichende Ansichten haben und die eine andere als die verordnete Sprache benutzen, aus dem offenen Diskurs in den Medien oder aus der Universität auszuschließen, das kann ich weder für links noch für demokratische politische Kultur halten.“Zudem kritisierte Thierse die Tendenz, Straßennamen, die etwa einen Bezug zur Ära des Kolonialismus aufweisen, auszutauschen. Und er verteidigte das sogenannte „Blackfacing“. Der Begriff bezieht sich darauf, dass Weiße sich schminken, um Schwarze darzustellen. Kritiker sehen darin eine Herabwürdigung und Stereotypisierung von Menschen mit nichtweißer Hautfarbe.
Daraufhin hatten Esken und Kühnert eine Reihe von Vertretern der Lesbisch-Schwulen-BisexuellTransgender-Gemeinschaft zum Dialog gebeten. Thierse wertet dies als Angriff. Zumal die Attacke von Esken und Kühnert nicht die Einzige ist. Auch Vertreter von Homosexuellen und Migranten innerhalb der SPD gingen hart mit dem ExBundestagspräsidenten ins Gericht. In seinem Brief an Esken schreibt Thierse, er habe in dem Artikel versucht, „zu Mäßigung zu mahnen und verstärkte Anstrengungen auf das Verbindende“zu richten. Er meine, dies sei „gut sozialdemokratisch“, so der SPD-Senior. Eine Antwort Eskens lag bis Redaktionsschluss nicht vor.