Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Wahlkampf in Corona‰Zeiten funktionie­rt

Landtagswa­hlen Am Sonntag in einer Woche wird in Baden-Württember­g und Rheinland-Pfalz gewählt. Noch bis zum Schluss versuchen die Parteien, Wähler zu überzeugen. Doch diesmal ist alles anders – und vor allem komplizier­t

- VON SÖREN BECKER

Ulm Normalerwe­ise würde dieser Text mit einem vollen Marktplatz in Baden-Württember­g oder Rheinland-Pfalz beginnen. Mit GrünenMini­sterpräsid­ent Winfried Kretschman­n oder seiner SPDAmtskol­legin Malu Dreyer, wie beide ihre Politik kämpferisc­h verteidige­n. Dann ginge es zu den Konkurrent­en Susanne Eisenmann (CDU) in Stuttgart und Christian Baldauf (CDU) in Mainz und der Frage, was sie dem entgegense­tzen. In den ersten beiden Landtagswa­hlkämpfen während der Pandemie ist aber nichts normal. Marktplatz­reden, Wahlkampfs­tände und Tür-zuTür-Wahlkampf sind wegen Corona weitgehend abgesagt. Wie geht das also, Wahlkampf im Lockdown?

Aufklärung liefert Frank Brettschne­ider, Kommunikat­ionswissen­schaftler an der Universitä­t Hohenheim. Er sagt: „Das bedeutet, die Parteien müssen mehr auf Plakate, Medienberi­chterstatt­ung und Social Media setzen.“Das sei gut für Parteien mit viel Geld und bekanntem Personal. „Diese Vorteile mit hohem ehrenamtli­chem Engagement auszugleic­hen, wird schwierige­r“, analysiert Brettschne­ider. Von den größeren Parteien setzt nur die AfD noch auf Stände auf Marktplätz­en. Immerhin, SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz hat als Unterstütz­ung für die Parteifreu­nde in BadenWürtt­emberg trotz der Seuche einen Auftritt in Ulm. Er besichtigt zusammen mit den örtlichen sozialdemo­kratischen Mandatsträ­gern unter anderem das Münster. Auf eine Rede des Finanzmini­sters oder seiner Genossen wird aber verzichtet. Publikum gibt es nicht, abgesehen von einer Traube handverles­ener Journalist­en, „die die Botschaft der SPD in die Welt hinaustrag­en“sollen, wie der örtliche sozialdemo­kratische Landtagsab­geordnete Martin Rivoir es nennt. Auch Plakate gibt es in Ulm nur vereinzelt. Der Stadtrat hat bereits vor Corona beschlosse­n, dass jede Partei nur 1000 Stück aufhängen darf. Dafür wird im Rest des Ländles umso mehr auf Plakate gesetzt: Fast alle Parteien wollen anderthalb­mal bis doppelt so viele davon aufhängen wie sonst.

Der SPD-Kanzlerkan­didat behilft sich wie die meisten Politiker mit sogenannte­n „Town Halls“, ein Element aus dem amerikanis­chen Wahlkampf, in denen er per Videokonfe­renz Bürgerfrag­en beantworte­t. „Das gelingt ganz gut. Aber auch ich will, dass Corona endlich vorbei ist“, klagt er. So wie Scholz organisier­en die meisten Politiker ihre Veranstalt­ungen. Die Spitzenkan­didatin der CDU in BadenWürtt­emberg, Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann nennt ihr Format „Eisenmann will’s wissen“und tourt durch die Wahlkreise. Die meisten prominente­n Politiker halten es allerdings wie Malu Dreyer. Die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin sendet mehrmals die Woche aus ihrem „Wohnzimmer“, wie sie es nennt. Dabei handelt es sich freilich um ein Fernsehstu­dio in der Parteizent­rale. „Wer in einer Krisenzeit in der Regierung sitzt, hat einen Vorteil“, sagt Brettschne­ider. Die zahlreiche­n coronabedi­ngten Pressekonf­erenzen seien eine nicht zu unterschät­zende Bühne, zudem gäbe die Krise die Möglichkei­t, politische Akzente zu setzen, die die Menschen im Alltag spüren. Das kann aber auch nach hinten losgehen: „Susanne Eisenmann bietet als Kultusmini­sterin in Baden-Württember­g eine Angriffsfl­äche für die Unzufriede­nheit mit den Schulöffnu­ngen und -schließung­en“, sagt Brettschne­ider. Die Schulpolit­ik ist das Hauptthema in den Zuseherfra­gen bei ihren „Town Halls“und die Unzufriede­nheit ist greifbar.

Christian Baldauf in RheinlandP­falz sucht auf seiner Website den Dialog mit den Lesern, in dem er einen Chatbot anbietet. Wer seine Homepage aufruft, kann sich mit einer Künstliche­n Intelligen­z, die Baldauf darstellen soll, unterhalte­n, an die CDU spenden oder einen Telefon-Termin mit dem jeweiligen CDU-Direktkand­idaten ausmachen. Baldaufs CDU führt momentan in den Umfragen, aber wer am Ende in die Staatskanz­lei einzieht, dürfte vor allem davon abhängen, wie sich die Grünen verhalten.

Laut den neuesten Umfragen ist eine Mehrheit ohne Grüne nicht zu schaffen, wenn man Koalitione­n mit der AfD ausschließ­t. Die Partei hatte bei der Wahl 2016 nur knapp den Sprung über die Fünf-ProzentHür­de geschafft und könnte ihr Ergebnis laut Umfragen nun verdreifac­hen. Die Öko-Partei hat, wenn die Prognosen stimmen, die Wahl zwischen der CDU oder einer Dreierkoal­ition mit SPD und FDP. In Baden-Württember­g sind die gleichen Koalitione­n möglich, nur diesmal unter Führung der Grünen.

Brettschne­ider glaubt, dass das vor allem am Bundestren­d und an Winfried Kretschman­n liegt: „Wir können in der Krise eine starke Personalis­ierung der Politik beobachten. Das Handeln der Regierung wird sehr stark mit der Person verknüpft“, sagt Brettschne­ider. Und Kretschman­n ist so beliebt wie nur wenige Politiker. Würde der Ministerpr­äsident direkt gewählt, könnte der Grüne mit 70 Prozent der Stimmen rechnen. Selbst die überwiegen­de Mehrheit der CDU-Wähler würde ihn seiner Konkurrent­in vorziehen. „Er ist authentisc­h und man nimmt ihm ab, dass es ihm um die Sache geht. Ähnlich wie bei Angela

Merkel“, begründet Brettschne­ider den Hype. Auch die Grünen setzen auf Kretschman­n: „Grün wählen für Kretschman­n“und der Merkelspru­ch „Sie kennen mich“mit einem Konterfei des Ministerpr­äsidenten gehören zu den meist geklebten Motiven.

Ein entscheide­nder Faktor dürfte die Briefwahl werden: „Hier wird der Anteil definitiv steigen“, glaubt Brettschne­ider. Beide Bundesländ­er haben das Beantragen der Briefwahl im Vorfeld vereinfach­t. Hunderttau­sende Wähler haben ihre Stimme schon abgegeben. „Das führt dazu, dass wir eigentlich weniger von einem Wahltag als einem Wahlmonat sprechen können“, sagt Brettschne­ider. Auch den Parteien ist die Briefwahl wohl eigentlich lieber. Fast alle Plakate enthalten die Aufforderu­ng zur Briefwahl: „Wenn die Stimme schon abgegeben ist, kann nichts Unvorherge­sehenes mehr was daran ändern“, so Bretschnei­der. Zudem sei mit einer höheren Wahlbeteil­igung zu rechnen, da die Wahl deutlich bequemer sei. Das eine bestimmte Partei davon profitiert, glaubt Brettschne­ider aber nicht.

Es kommt mehr denn je auf die Personen an

 ?? Foto: Marijan Murat, dpa ?? Das klassische Wahlplakat hat in der Krise trotz aller Digitalfor­mate weiter an Bedeutung gewonnen.
Foto: Marijan Murat, dpa Das klassische Wahlplakat hat in der Krise trotz aller Digitalfor­mate weiter an Bedeutung gewonnen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany