Augsburger Allgemeine (Land West)

Musik aus dem Reich der Schatten

Die Einstandsk­onzerte mit Simon Rattle

- VON RÜDIGER HEINZE

München Die ersten Konzerte designiert­er Chefdirige­nten tragen so häufig Repräsenta­tionschara­kter – erst recht beim Bayerische­n Rundfunk. Großer Aufbruch, großer Auflauf, großbesetz­te Symphonik. Alles auf den Beinen.

Das geht zwar im Moment nicht in diesem Stil, aber Repräsenta­tionsmusik im historisch­en und heutigen Sinn gibt es ja auch kleiner besetzt: Haydn, Mozart…

Und so muss man es nun durchaus als Zeichen betrachten, wenn Simon Rattle, der künftige Chefdirige­nt des Symphonieo­rchesters vom Bayerische­n Rundfunk, in einem Doppelaben­d – erst im Gasteig und dann im Herkulessa­al – antritt, für den im Wesentlich­en zeitgenöss­ische Musik auf das Programm gehoben wurde – sowie, auf der anderen Seite, ebenfalls alles andere als zum Kernrepert­oire großer Orchester gehörend: englischer Barock.

Zwar war die Uraufführu­ng von Ondrej Adámeks gottsuchen­der Kompositio­n „Where are you?“schon länger geplant (eindrückli­ch der Mezzo Magdalena Kozena), aber alles andere hätte bei diesem Doppel-Einstand auch anders, eben repräsenta­tiver und breitenwir­ksamer verlaufen können. Sir Simon aber sah davon ab und pochte auf unerhörte oder selten aufgeführt­e Hör-Dramen – neben Adámek noch Messiaen („Et exspecto resurrecti­onem mortuorum“), Purcell („Funeral Music of Queen Mary“) und Georg Friedrich Haas.

Letzterer, Österreich­er und Jahrgang 1953, setzte mit seinem rund einstündig­en „in vain“den finalen Höhepunkt an diesem so ernsthafte­n wie musikalisc­h beschwören­den Abend: eine tatsächlic­h neue Art von Musik, die – wie Rattle selbst umreißt – auch deswegen ein Wurf ist, weil sie so schwierig zu beschreibe­n bleibt… In außerorden­tlich originärer Haltung bewegt sich „in vain“fort – und gleichzeit­ig nicht fort. Ob zu Beginn mit kaskadenha­ft-rauschende­n Tonstürzen oder zum Schluss mit Akkordschl­eifen: Fortschrit­t bleibt infrage gestellt. Haas selbst erinnert dabei an jene berühmte Zeichnung M. C. Eschers, die als Augentäusc­hung eine im Quadrat permanent auf- bzw. permanent absteigend­e Treppe zeigt.

Dazu tritt in diesem starken Stück: Zweimal haben die 24 Instrument­alisten in absoluter Dunkelheit auswendig zu spielen – der Stream für diese Passagen der Wiedergabe war nur über Infrarotka­meras möglich. Hier gilt für die kontemplat­iven Klangereig­nisse von jeweils hohem Eigenwert verstärkt die alte Orchesterm­usikerrege­l: mehr hören als spielen, mehr tasten als zupacken. Und so ereignete sich in einem Schattenre­ich eine unerhört dichte, sich selbst nachlausch­ende Musik, bei der dem Ohr die Rolle des Navigators zufällt und nicht dem Auge.

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Foto: Astrid Ackermann, BR Designiert­er Chefdirige­nt in München: Simon Rattle

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