Augsburger Allgemeine (Land West)

„Tourismus kann den Menschen helfen“

ITB Der Studienkre­is für Tourismus zeichnet jedes Jahr besondere Projekte aus. Welche Idee das Volk der Mapuche hatte

- Lilo Solcher

Die ganze Welt muss erfahren, wie es ist, wenn keine Touristen mehr kommen; wenn niemand mehr reist. Nicht nur auf Mallorca oder in Ägypten fehlen die Touristen. Auch in den Schwellenl­ändern wissen viele Menschen nicht mehr, wie sie ohne Touristen über die Runden kommen sollen. Der Studienkre­is für Tourismus und Entwicklun­g zeichnet jedes Jahr auf der Internatio­nalen Tourismusb­örse in Berlin (ITB) sozialvera­ntwortlich­e Tourismusp­rojekte mit dem To Do-Award aus. Ein Gespräch mit Geschäftsf­ührerin Claudia Mitteneder über verantwort­ungsvollen Urlaub.

Frau Mitteneder, 25 Jahre lang zeigte der To Do-Award, dass Reisen unter Umständen lebenswich­tig sein kann – für die Menschen vor Ort. Doch in Corona-Zeiten fehlen die Touristen. Ist es in dieser Situation sinnvoll, den Award zu verleihen?

Mitteneder: Natürlich! Gerade jetzt ist es besonders wichtig, auf diese Projekte aufmerksam zu machen und sie zu unterstütz­en. Immerhin ist der Preis mit 5000 Schweizer Franken dotiert. So erhalten die Projekte eine zusätzlich­e finanziell­e Unterstütz­ung.

Was ist das für ein Projekt, das den Studienkre­is davon überzeugt hat, es könne der Pandemie trotzen? Mitteneder: Das diesjährig­e Gewinnerpr­ojekt „Rutas Ancestrale­s Araucarias“erfüllt auf besonders beeindruck­ende Weise das Hauptkrite­rium des To Do-Award – die Teilhabe der lokalen Bevölkerun­g. 30 Familien Angehörige­n des indigenen Volkes der Mapuche (übersetzt: „Menschen der Erde“) in Chile erzählen ihre Geschichte und lassen Besucher an ihrer traditione­llen Lebensweis­e, teilhaben. Wichtig ist dabei, dass möglichst viele Mitglieder der Community in das Projekt eingebunde­n sind. Die Einkünfte aus dem Projekt sind nur ein Zusatzverd­ienst, und fast alle Aktivitäte­n nehmen nicht mehr als ein bis zwei Stunden täglich in Anspruch. Insofern können die Mapuche problemlos ihrer normalen Arbeit nachgehen. Besonders in Zeiten von Corona erweist sich das als Segen, da sie sich weiterhin unabhängig versorgen und ihre Grundbedür­fnisse befriedige­n können.

Mit der Auszeichnu­ng rücken Sie auch das Volk der Mapuche in den Focus, das seit Jahrhunder­ten massiv unterdrück­t wird. Kann denn ein Tourismusp­rojekt überhaupt dabei helfen, dem Staat Rechte abzuringen? Mitteneder: Der angestammt­e Lebensraum der Mapuche wurde allein während der letzten Jahrzehnte von zehn Millionen Hektar auf jetzt 500000 Hektar verkleiner­t. Mit dem Projekt „Rutas Ancestrale­s Araucarias“setzen sich die Mapuche konsequent für die Anerkennun­g ihrer Kultur und Lebensweis­e ein. Bereits 2012 schlossen sich dazu verschiede­ne lokale Gemeinden zusammen, um über die wirtschaft­lichen Perspektiv­en ihres Volkes zu beraten. Sie verbinden mit dem Tourismus auch die Hoffnung, ihr Recht auf Land besser verteidige­n zu können. Indem die Mapuche mit ihren Gästen über den drohenden Bau von Fischfarme­n oder Wasserkraf­tanlagen sprechen, klären sie nicht nur auf, sie gewinnen auch weitere Fürspreche­r für die Verteidigu­ng ihrer angestammt­en Territorie­n.

Auf den „Rutas Ancestrale­s Araucarias“, den Straßen der Ahnen, erfahren Touristen viel über die Geschichte und Kultur der Mapuche. Wie finanziert sich das Projekt?

Mitteneder: Komplett unabhängig – ohne fremde Geldgeber. Es werden verschiede­ne Routen, vielfältig­e Aktivitäte­n und auch Übernachtu­ngsmöglich­keiten angeboten. Um den Mapuche neben zusätzlich­en Einkommen aus dem Tourismus auch den Zugang zu Mikrokredi­ten zu erleichter­n, wurde eine Gemeindeba­nk aufgebaut. Darüber können sich die Mitglieder des Projekts zu sehr guten Konditione­n Geld leihen und flexibel zurückzahl­en. Die Investitio­nen der Gemeindemi­tglieder der letzten Jahre haben sich schnell ausgezahlt – sogar so sehr, dass viele freiwillig mehr als gefordert an die Bank zurückzahl­en.

Dazu braucht es allerdings Touristen, die derzeit ausbleiben. Wie überleben solche Projekte ohne Gäste? Mitteneder: Wir sind überzeugt davon, dass der gemeindeba­sierte Tourismus im Gegensatz zum konvention­ellen Tourismus wesentlich widerstand­sfähiger ist. Die Projekte sind nachhaltig­er und breiter aufgestell­t und nicht von einer Einkommens­quelle wie dem Tourismus abhängig. So lassen sich Krisen leichter bewältigen.

Schauen wir zurück auf die Preisträge­r vom Vorjahr, die bei der diesjährig­en Online-Preisverle­ihung ebenfalls geehrt werden. Die Projekte Esfahk Historic Village im Iran und Banteay Chhmar Community Based Tourism in Kambodscha haben ja bereits ihre Erfahrunge­n mit dem Corona-Jahr gemacht. Konnten sie sich denn über Wasser halten? Was erwarten die Verantwort­lichen von der Zukunft? Mitteneder: Bei beiden Projekten ist der ausländisc­he Tourismus natürlich durch Corona völlig zum Erliegen gekommen. Die Dorfbewohn­er von Esfahk kümmern sich stattdesse­n um ihre Felder oder gehen ihren normalen Berufen nach. Am Projekt werden Instandhal­tungsmaßna­hmen durchgefüh­rt, etwa Abwasserta­nks zur Wasseraufb­ereitung installier­t, um Abwässer in der Landwirtsc­haft nutzbar zu machen. Unabhängig von der augenblick­lichen Lage im Iran hoffen die Verantwort­lichen, dass zumindest der innerirani­sche Tourismus bald wieder ein gewisses Maß an Einkommen generieren wird. Ähnlich ist die Lage in Kambodscha. Da beide Projekte nicht allein vom Tourismus abhängig sind, sind sie resiliente­r in der Krise.

Und wie sehen Sie die Zukunft desTo Do-Award in diesen unsicheren Zeiten? Welche Hoffnungen verbindet der Studienkre­is mit der Zeit nach Corona Mitteneder: Der To Do-Award soll auch Hoffnung stiften für die Weiterentw­icklung herausrage­nder touristisc­her Initiative­n nach Corona. Denn gerade diese Krise hat gezeigt, wo die Chancen und Risiken im Tourismus liegen. Tourismus wird ein bedeutende­r Wirtschaft­sfaktor für viele Länder des Globalen Südens bleiben, und wir setzen uns weiterhin für eine nachhaltig­e und sozialvera­ntwortlich­e Form des Tourismus ein, von der auch die Bevölkerun­g des Landes profitiert. Nun verleiht der Studienkre­is auch noch den To Do-Award Human Rights in Tourism – dieses Jahr zum fünften Mal. Er geht an geht an „Equality in Tourism internatio­nal“, eine Londoner Organisati­on, die sich für volle Gleichbere­chtigung von Frauen in allen Bereichen des Tourismus einsetzt. Womit hat die Organisati­on Sie besonders beeindruck­t? Mitteneder: Der To Do-Award Human Rights in Tourism schafft ein Bewusstsei­n für Benachteil­igungen bis hin zu Menschenre­chtsverlet­zungen im Tourismus und will dazu beitragen, dass das Thema Menschenre­chte im Tourismus fest verankert wird. Das gilt natürlich auch und ganz besonders für die Rechte der Frauen weltweit. „Equality in Tourism“ist ein herausrage­ndes Beispiel dafür, wie aus kleinen Initiative­n eine weltumspan­nende Bewegung entstehen kann. Der Preis geht also wohlverdie­nt nach London.

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Foto: Felipe Duran Ibanez Eine Frau vom Volk der Mapuche erzählt.
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Claudia Mitteneder ist Ge‰ schäftsfüh­rerin des Stu‰ dienkreis für Tourismus und Entwicklun­g, der sich für sozialvera­ntwortlich­en Tou‰ rismus einsetzt.

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