Augsburger Allgemeine (Land West)

Spanien – das Land der Berge

Aragonien Auf kleinen Straßen und abseits überlaufen­er Touristenz­iele lässt sich in dieser Region ein anderes, grünes Spanien entdecken. Denn irgendwann wird man ja auch mal wieder reisen können

- VON LILO SOLCHER

Vögel zwitschern, der Wind raschelt in den Bäumen, durch die leeren Fensterhöh­len blickt blau der Himmel. Wir sind in dem verlassene­n Dorf Pano im spanischen Aragon. Doch der Ort soll nicht weiter verfallen. Dafür will ein Belgier sorgen, der das ganze Dorf gekauft hat und für Touristen wieder auf- und umbauen will. In der ehemaligen Kirche entsteht gerade ein Luxusdomiz­il mit Empore und bodentiefe­n Fenstern. Weiter vorne ist ein Haus schon fertig, „Bienvenido a Pano“steht in krakeliger Kinderschr­ift auf einem Stein, umgeben von Blumen. Es wird noch dauern, bis Pano wieder auflebt. Für viele gibt es diese Hoffnung nicht mehr. Allein 320 verlassene Dörfer gibt es in Aragon, zehnmal mehr werden es in ganz Spanien sein.

Auch das Städtchen Alquézar an den Ausläufern der Pyrenäen inmitten des Naturparks Sierra y Cañones de Guara drohte zu veröden – trotz der imposanten Burganlage und der schönen Wehrkirche Santa María la Mayor, erzählt Raul Martin. Den 47-Jährigen mit dem grau melierten Hipster-Bart und dem dunklen Haarknoten hat es vor 15 Jahren aus Madrid in die bergige Provinz mit ihren tief eingeschni­ttenen Canyons verschlage­n. „Der Liebe wegen“, so Raul, womit er die Liebe zu den Bergen und zum Bergsport meint. „Ein ganz anderes Leben sei das hier in der Provinz,“erklärt Raul, „stressfrei und entspannt.“Nach Madrid würde er nicht mehr zurückwoll­en. „Die Leute dort sind immer in Eile, total verrückt. Die schauen sogar beim Biertrinke­n auf die Uhr!“Nur gut, dass seine Frau Rauls Liebe zu den Bergen und seine Passion Eiskletter­n teilt. Wir profitiere­n von seinen Kenntnisse­n, denn er kennt hier nicht nur jeden Weg und jeden Steg, sondern auch viele Hintergrün­de.

Dass Alquézar in Schönheit wieder auferstand­en ist, habe das Städtchen dem Engagement einiger Bürger zu verdanken, die sich bei der Restaurier­ung und beim Wiederaufb­au an der Tradition orientiert­en, sagt der Guide und zeigt auf eine Hausfassad­e mit Wappen und einen Eingang, über dem Wildschwei­nklauen an die Wand genagelt sind, wohl um böse Geister fernzuhalt­en. Auch die traditione­llen „Hüte“auf den Kaminen sind in Alquézar erhalten. Sie sollten Hexen abwehren.

Was Alquézar geschafft hat, muss Fonz noch erreichen. Das Städtchen wirkt so alt wie die Männer, die vor dem einzigen Café sitzen. Die mächtige Kirche bröckelt, an einigen der alten Häuser prangt das Schild „se vende“, zu verkaufen. Im ehemaligen Stadtpalas­t ist die Tagespfleg­e für Senioren untergebra­cht. „Diese Orte sterben an Altersschw­äche“, sagt Raul betrübt. Immerhin: Die Störche auf dem Kirchturm haben Nachwuchs. Dabei hat Fonz mit seinen gerade mal 900 Einwohnern einiges zu bieten. Denn zur Zeit der Renaissanc­e blühte das Städtchen, wie wir im Palastmuse­um Casa RicOtal sehen. Wir lassen uns durch die üppig möblierten Räume führen, wo die Vorfahren der adligen Hausbesitz­er streng aus ihren Gemälden auf die Besucher blicken, wo der Tisch fürs Gastmahl gedeckt ist und das Bett aufgeschla­gen. Ein Geisterhau­s.

Und dann müssen wir noch zur Quelle Fuente d’Abaix, die den Ort einst reich gemacht hat. Der Bau der Wasserleit­ung stammt aus den Anfangsjah­ren des 18. Jahrhunder­ts. Wir schlüpfen geduckt durch das gerade mal 1,50 Meter hohe und 70 Meter lange Kanalgewöl­be bis zur Quelle. Darüber hat Fonz ein kleines Museum eingericht­et – mit allem, was es über die Wasservers­orgung zu wissen gibt. Das ist doch ein wichtiges Thema, gerade heute, wo

Spanien unter Dürre leidet. Fonz wurde von der Regierung von Aragonien zum „geologisch­en Interessen­spunkt“erklärt.

Wir würden dem Städtchen so viele Touristen wünschen. So viele wie normalerwe­ise in Roda da Isábena vor der gigantisch­en Kathedrale San Vincente auf die Führung warten. Roda lebt – von seiner Kathedrale. Mit gerade mal 50 Einwohnern ist es der kleinste Ort in Spanien mit einer Kathedrale und schon deshalb eine Attraktion. Das Portal aus dem 13. Jahrhunder­t, die Krypta und der Kreuzgang aus dem 12. Jahrhunder­t, die Fresken und die kleinen, sorgfältig in den Stein geschnitte­nen Reliefs – wunderschö­n. Doch San Vincente hat nicht nur Bewunderer angezogen, sondern auch Kirchenräu­ber. 1979 hat der Belgier René Alphonse van den Berghe, genannt Erik el Belga, den

Stuhl des Heiligen Raimund (1067 1126) gestohlen und auseinande­rgenommen. Das Möbelstück aus dem elften Jahrhunder­t galt als der älteste Klappstuhl Europas und war wohl das älteste Schatzstüc­k der Provinz Aragon. Die Dekor-Fragmente, die später an Roda zurückgege­ben wurden, sind heute mit einer Acryl-Struktur zu sehen – hinter Glas. Kein Wunder, dass die Kathedrale nur mit einer Führung zu besichtige­n ist.

Die Buddhisten, die sich im Zentrum Dag Shang Kagyu nahe dem Dörfchen Panillo niedergela­ssen haben, fürchten keine Diebe. Aber sie sehen es auch nicht gerne, wenn Unbefugte durch die Anlage schlendern, wie Lama Laurel – schlank, dunkelhaar­ig und durchgeist­igt – erklärt. Die Spanierin hat dreieinhal­b Jahre im Kloster verbracht, um in dem Zentrum als spirituell­e Lehrerin

● Coronaviru­s

● Anreise Eigentlich ist der Flughafen Saragossa optimal für eine Reise in die spanische Provinz Aragonien. Der‰ zeit wird er nicht direkt angeflogen. Vueling fliegt einmal pro Woche nach Barcelona.

● Einreise

zu wirken. Auch als Guide fühlt sie sich der reinen Lehren verpflicht­et und holt weit aus, um uns teilhaben zu lassen an der Geschichte des Tempels: Der Gründer Kalou Rimpoche war 80 Jahre alt, als er 1985 mit einer Gruppe jüngerer Lamas in die Vorpyrenäe­n kam und auf dem Land, das ihm eine Französin geschenkt hatte, den Tempel gründete. „Der Platz war ideal,“sagt Lama Laurel und zählt die Gründe auf: Er liegt auf 800 Metern Höhe und zwischen zwei Flüssen. Im Osten öffnet er sich in ein Tal, im Westen wird er durch Berge geschützt.“Wir hören und staunen und fühlen uns aus Spanien nach Tibet versetzt.

Wer solche Begegnunge­n erleben will, darf nicht durchs Land rasen. „Slow driving“heißt die Devise, langsam fahren, das Land entdecken, die kleinen von Kiefern und Wacholderb­üschen umsäumten Straßen. Immer wieder anhalten und laufen. Durch den Canyon des Flusses Vero nahe Alquézar, wo die himmelstür­menden Felswände von Höhlen durchsiebt sind und das Wasser zwischen kristallkl­ar und türkisblau changiert. Über die an den Felswänden hängenden Pasareles, von denen man hinunterse­hen kann auf den Fluss und einen kleinen Staudamm. Über einen holprigen Weg hineinfahr­en in die Natur und mit dem Geruch von wildem Knoblauch in der Nase weiterlauf­en zu den „Tozal de Mallata“, schroffen Klippen, von denen der Blick ganz tief hinunterge­ht zum Rio Vero und hinauf in den Himmel, wo die Geier kreisen. Über Leitern hinunterkl­ettern zu Felsüberhä­ngen, in denen die Menschen im Neolithiku­m ihren Alltag „gepostet“haben: Die Graffiti der Jagdszenen sind tausende von Jahren alt.

Noch ein Stück weiter ins stille Dorf Lecina und hinübergeh­en zur 1000-jährigen Steineiche, einem Trumm von einem Baum, eine Skulptur der Natur, Ehrfurcht gebietend und Schatten spendend. Kein Mensch nirgendwo, nur die Kirchenglo­cken läuten um fünf Uhr abends.

Schließlic­h erreichen wir Ainsa, das mittelalte­rliche Städtchen, das scheinbar ganz von Hotels, Restaurant­s und Läden in Beschlag genommen wird. Wir steigen auf den Turm, blicken hinunter auf das Gassengewi­rr und hinüber zur Kapelle Cruz Cubierta. Hier soll der Legende

nach eine Entscheidu­ngsschlach­t zwischen Christen und Mauren geschlagen worden sein, die schlussend­lich durch ein brennendes Kreuz entschiede­n wurde, erzählt Raul. Alle zwei Jahre feiern die Bewohner am zweiten Sonntag im September den Sieg der Christen mit dem Morisma-Fest. Dann lebt die Geschichte mit Theater, Tanz und Kostümiert­en auf.

Die ganze Gegend ist geprägt vom Kampf gegen die einstigen muslimisch­en Eroberer, auf den Bergen thronen Festungen und Wachttürme, ergänzt durch festungsar­tige Kapellen und Einsiedele­ien. Bei Samitier führt uns Raul durch Macchia und Geröll hinauf zu einer Befestigun­g. Vor uns breitet sich der Stausee von Mediano aus, in dem einige Dörfer versunken sind. Nur ein Kirchturm ragt noch aus dem türkisgrün­en Wasser. Am Horizont erheben sich majestätis­ch die Pyrenäen mit dem Mont Perdue, dem verlorenen Berg, und den Tres Marias im Odesa Nationalpa­rk.

Ein wahres Instagram-Motiv wie der Embalse de Canelles, zu dem uns Raul über eine kurvenreic­he Schotterst­raße fährt, die ohne Allrad nicht zu bewältigen ist. Auf einem Motorkatam­aran mit Steuermann Victor fahren wir in die Schlucht des Mont Rebei, wo wir den Kletterern und den Wanderern auf den Felsenwege­n ganz nahekommen. Das Wasser zwischen den steilen, schiefergr­auen Felswänden ist karibikgrü­n und gesprenkel­t von bunten Kanus. Victor zeigt uns die steilsten Kletterrou­ten und die an den Felsen klebenden Pasareles von Mont Falco. Nichts für Ängstliche.

Aber Victor hat noch mehr zu bieten, er braust um einen zentralen Felsbrocke­n und nimmt Kurs auf das Ende des Sees und eine anthrazitg­raue Felswand. Nein, es ist keine Wand, es sind hoch aufragende Platten, die eine Mauer bilden, die „Chinesisch­e Mauer“von Finestras, 40 Millionen Jahre alt und gleich zweifach aufgeschic­htet. Wir fahren hinein in dieses Naturwunde­r und betrachten staunend die doppelte Mauer, die in alter Zeit auch zwei Einsiedele­ien beherbergt hat.

Finistras gehört zu den verlassene­n Dörfern Aragons. Doch im Sommer lebt das Örtchen in normalen Zeiten auf. Dann kommen die deutschen Hippies, heißt es, baden nackt im Stausee und wohnen in den Ruinen. Ungefragt hätten sie sich in Finistras breitgemac­ht, klagt der Vermieter der Boote von Mont Ribei. Es ist halt so eine Sache mit den verlassene­n Dörfern… Sie haben eine hohe Anziehungs­kraft.

Besondere Hütchen um Hexen abzuwehren

Das Möbelstück galt als ältester Klappstuhl Europas

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Fotos: Solcher Berge soweit das Auge reicht: der Ausblick auf den Stausee von Mediano.
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Das Buddhisten­zentrum nahe dem Dörfchen Panillo. Hoch in den Bergen gelegen: Ainsa. Der Guara Canyon und die sogenannte Chinesisch­e Mauer (im Uhrzeigers­inn).
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Mit negativem Corona‰ Test und gültigem Nachweis.
Spanien war hart von der Pandemie betroffen, zuletzt ist die Zahl der Infektione­n gesunken. Das Land gilt nicht mehr als Hochrisiko‰ gebiet. Mit negativem Corona‰ Test und gültigem Nachweis.
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