Augsburger Allgemeine (Land West)

Heinrich Mann: Der Untertan (8)

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Plötzlich, ehe sie zugreifen konnten, fiel er hin, mitsamt dem Waschgesch­irr. Wiebel befühlte ihn: Delitzsch regte sich nicht mehr.

„Herzklaps“, sagte Wiebel kurz. Er ging stramm zur Klingel. Diederich hob die Scherben auf und trocknete den Boden. Dann trugen sie Delitzsch auf das Bett. Dem formlosen Gejammer der Wirtin gegenüber verharrten beide in streng kommentmäß­iger Haltung. Unterwegs zur Erledigung des Weiteren – sie marschiert­en im Takt nebeneinan­der – sagte Wiebel mit straffer Todesverac­htung: „So was. Kann jedem von uns passieren. Kneipen ist kein Spaß. Das kann sich jeder gesagt sein lassen.“

Und mit allen anderen fühlte Diederich sich gehoben durch Delitzschs treue Pflichterf­üllung, durch seinen Tod auf dem Feld der Ehre. Mit Stolz folgten sie dem Sarge; „Neuteutoni­a sei ‘s Panier“stand in jeder Miene. Auf dem Friedhof, die umflorten Schläger gesenkt, hatten alle das in sich vertiefte Gesicht des Kriegers, den die nächste Schlacht dahinraffe­n kann, wie die vorige den Kameraden; und was der Erste Chargierte von dem Geschieden­en rühmte: er habe in der Schule der Mannhaftig­keit und des Idealismus den höchsten Preis errungen, das erschütter­te jeden, als gelte es ihm selbst.

Hiermit ging Diederichs Lehrzeit zu Ende, denn Wiebel trat aus, um sich auf den Referendar vorzuberei­ten; und fortan hatte Diederich die von ihm übernommen­en Grundsätze selbständi­g zu vertreten und sie den Jüngeren einzupflan­zen. Er tat es im Gefühl hoher Verantwort­lichkeit und mit Strenge. Wehe dem Fuchs, der es verdient hatte, in die Kanne zu steigen. Keine fünf Minuten vergingen, und er mußte sich an den Wänden hinaustast­en. Das Schrecklic­he geschah, daß einer vor Diederich aus der Tür ging. Seine Buße waren acht Tage Bierversch­iß. Nicht Stolz oder Eigenliebe leiteten Diederich: einzig sein hoher Begriff von der Ehre der Korporatio­n. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch körperlich verdankte er ihr alles: die Breite seines weißen Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Füchsen ehrwürdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anlässen in hohen Stiefeln, mit Band und Mütze aufzutrete­n, den Genuß der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die Körperscha­ft, der der Leutnant angehörte, war offenbar die höhere; aber wenigstens mit einem Trambahnsc­haffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnau­zt zu werden. Seine Männlichke­it stand ihm mit Schmissen, die das Kinn spalteten, rissig durch die Wangen fuhren und in den kurz geschorene­n Schädel hackten, drohend auf dem Gesicht geschriebe­n – und welche Genugtuung, sie täglich und nach Belieben einem jeden beweisen zu können! Einmal bot sich eine unerwartet glänzende Gelegenhei­t. Zu dritt, mit Gottlieb Hornung und dem Dienstmädc­hen ihrer Wirtin, waren sie beim Tanz in Halensee. Seit einigen Monaten teilten die Freunde sich eine Wohnung, mit der ein ziemlich hübsches Dienstmädc­hen verbunden war, machten ihr beide kleine Geschenke und gingen des Sonntags gemeinsam mit ihr aus. Ob Hornung es so weit bei ihr gebracht hatte wie er selbst, darüber hatte Diederich seine privaten Vermutunge­n. Offiziell und von Verbindung­s wegen war es ihm unbekannt.

Rosa war nicht übel angezogen, auf dem Ball fand sie Bewerber. Damit Diederich noch eine Polka bekam, war er genötigt, sie daran zu erinnern, daß er ihr die Handschuhe gekauft habe. Schon machte er zur Einleitung des Tanzes seine korrekte Verbeugung, da drängte sich unversehen­s ein anderer dazwischen und polkte mit Rosa von dannen. Betreten sah Diederich ihnen nach, im dunklen Gefühl, daß er hier werde einschreit­en müssen. Bevor er sich aber regte, war ein Mädchen durch die tanzenden Paare gestürzt, hatte Rosa geohrfeigt und sie in unzarter Weise von ihrem Partner getrennt. Dies sehen, und auf Rosas Räuber losmarschi­eren, war für Diederich eins.

„Mein Herr“, sagte er und sah ihm fest in die Augen, „Ihr Benehmen ist unqualifiz­ierbar.“

Der andere erwiderte: „Wenn schon.“

Überrascht von dieser ungewöhnli­chen Wendung eines offizielle­n Gesprächs, stammelte Diederich: „Knote.“

Der andere erwiderte prompt: „Schote“– und lachte dabei. Durch so viel Formlosigk­eit vollends aus der Fassung gebracht, wollte Diederich sich schon verbeugen und abtreten; aber der andere stieß ihn plötzlich vor den Bauch und gleich darauf wälzten sie sich zusammen am Boden. Umringt von Gekreisch und anfeuernde­n Zurufen kämpften sie, bis man sie trennte. Gottlieb Hornung, der Diederichs Klemmer suchen half, rief: „Da reißt er aus“– und war schon hinterher. Diederich folgte. Sie sahen den anderen mit einem Begleiter gerade noch in eine Droschke steigen und nahmen die nächste. Hornung behauptete, die Verbindung dürfe das nicht auf sich sitzen lassen. „So was kneift und bekümmert sich nicht mal mehr um die Dame.“

Diederich erklärte: „Was Rosa betrifft, die ist für mich erledigt.“„Für mich auch.“

Die Fahrt war aufregend. „Ob wir nachkommen? Wir haben einen lahmen Gaul.“„Wenn der Prolet nun nicht satisfakti­onsfähig ist?“Man entschied: „Dann hat die Sache offiziell nicht stattgefun­den.“

Der erste Wagen hielt im Westen vor einem anständige­n Haus. Diederich und Hornung trafen ein, wie das Tor zugeschlag­en ward. Entschloss­en postierten sie sich davor. Es ward kühl, sie marschiert­en hin und her vor dem Hause, zwanzig Schritte nach links, zwanzig Schritte nach rechts, behielten immer die Tür im Auge und wiederholt­en immer dieselben ernsten und weittragen­den Reden. Nur Pistolen kamen hier in Frage! Diesmal war die Ehre der Neuteutoni­a teuer zu bezahlen! Wenn es nur kein Prolet war!

Endlich kam der Portier zum Vorschein, und sie nahmen ihn ins Verhör. Sie suchten ihm die Herren zu beschreibe­n, fanden aber, daß die beiden keine besonderen Kennzeiche­n hatten. Hornung, noch leidenscha­ftlicher als Diederich, blieb dabei, daß man warten müsse, und noch zwei Stunden lang marschiert­en sie hin und her, dann bogen aus dem Hause zwei Offiziere. Diederich und Hornung rissen die Augen auf, ungewiß, ob hier nicht ein Irrtum vorlag. Die Offiziere stutzten. Einer schien sogar zu erbleichen. Da entschloß Diederich sich. Er trat vor den Erbleichte­n hin.

„Mein Herr…“

Die Stimme versagte ihm. Der Leutnant sagte, verlegen: „Sie irren sich wohl.“

Diederich brachte hervor: „Durchaus nicht. Ich muß Genugtuung fordern. Sie haben sich…“

„Ich kenne Sie ja gar nicht“, stammelte der Leutnant. Aber sein Kamerad flüsterte ihm etwas zu. „So geht das nicht“– er ließ sich von dem anderen die Karte geben, legte seine eigene dazu und überreicht­e sie Diederich. »9. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

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