Augsburger Allgemeine (Land West)
Wir leben im VirenZeitalter
Über das „Jahrhundert der Pandemien“
Corona wirkt auf viele Menschen wie eine Ausnahmesituation. Aber die Welt – zumindest große Teile – war in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit Infektionskrankheiten konfrontiert: Sars, Ebola, Zika… Der britische Medizinhistoriker Mark Honigsbaum beschreibt sie im überaus lesenswerten Buch „Das Jahrhundert der Pandemien“. Dieses Jahrhundert bezieht sich auf den Zeitraum 1918 bis 2019.
Die aktuelle Pandemie wird also noch berücksichtigt – und erscheint durchaus in einem anderen Licht. Denn der Autor gibt nicht nur einen chronologischen Überblick, sondern dokumentiert nach zehnjähriger Recherche den Verlauf all der Ausbrüche akribisch: Von der Beschreibung erster rätselhafter Fälle, von der Detektivarbeit bei der Ursachenforschung, von falschen Fährten und dem Wirken mächtiger Lobbygruppen. Das liest sich über weite Strecken spannender als ein Krimi.
Aber das Buch ist dazu sehr klug. Honigbaums zentrales Anliegen ist es, Faktoren herauszuarbeiten, die Seuche-Entstehung begünstigen, Aufklärung verschleiern, Bekämpfung erschweren – und da gibt viele Parallelen: „All diese Epidemien zeigen, wie rasch das anerkannte medizinische Wissen durch das Auftauchen neuer Pathogene auf den Kopf gestellt werden kann und wie ungewöhnlich erfolgreich solche Epidemien beim Verbreiten von Panik, Hysterie und Furcht sind, solange es keine Laborergebnisse, effektive Impfstoffe und wirksame Arzneimittel gibt.“
Über allem steht für den Autoren jedoch der ökologische Aspekt. Denn egal ob bei Psittakose, Aids, Ebola oder Sars: Es sind etliche Umweltbedingungen, die Erregern aus dem Tierreich den Sprung zum Menschen ebnen. Und es ist unsere Lebensweise, die über die Verbreitung entscheidet. Honigbaum zitiert den renommierten Mediziner René Dubois (1901–1982): „Der moderne Mensch glaubt, dass er sich zum fast völligen Herrscher der Naturkräfte aufgeschwungen habe, die seine Evolution in der Vergangenheit geformt haben, und dass er nun sein eigenes biologisches und kulturelles Schicksal kontrollieren könne. Aber das könnte sich als Illusion erweisen …“Walter Willems