Augsburger Allgemeine (Land West)

Zurück zur Atomkraft

Klimawande­l Zehn Jahre nach dem Unglück von Fukushima will Japan viele Reaktoren wieder hochfahren. Ohne sie sei der Abschied von Öl und Gas nicht zu schaffen, heißt es. Ein Besuch in der Katastroph­enregion bei Menschen, die um einen Neuanfang ringen

- VON FELIX LILL

Koriyama Hätte die Heimat von Tetsuzo Yamaguchi schon im März 2011 keinen Atomstrom mehr produziert, wären ihm einige Probleme erspart geblieben. „Ich wusste wirklich nicht mehr weiter“, sagt der 68-Jährige, als er über sein Betriebsge­lände läuft. „Da hinten wird Nihonshu hergestell­t. Das ist der traditione­lle Reiswein Japans. Und im Trakt davor destillier­en wir Shochu.“Ein Schnaps auf Roggen- oder Süßkartoff­elbasis. Kurz bevor Yamaguchi, ein kleiner Mann mit schütterem Haar, das frei stehende Bürogebäud­e erreicht, blickt er betreten gen Himmel. „Aber all das wurde unwichtig.“

Am 11. März 2011 gab es plötzlich völlig andere Probleme. Für Tetsuzo Yamaguchi, der in zehnter Generation die mehr als 250 Jahre alte Destilleri­e Sasanokawa leitet, verlief die Geschichte so: „Am Nachmittag bebte plötzlich die Erde ganz gewaltig. Wir hatten ungeheure Angst.“Er hält inne. „Sehen Sie den Schornstei­n auf dem Foto da drüben?“Er deutet auf ein Schwarz-Weiß-Bild an der Wand. „Durch das Erdbeben brach er zusammen.“ An den Tagen darauf seien dann alle Lieferkett­en unterbroch­en gewesen. „Wir konnten erst einmal dichtmache­n“, sagt er.

Nur etwas mehr als 70 Kilometer weiter westlich war im Nordosten Japans ein Erdbeben der Stärke 9 gemessen worden. Kurz darauf schwappte ein Tsunami mit über 20 Meter hohen Wellen über die Küstenorte. Und als wäre das nicht genug gewesen, havarierte dadurch auch noch das Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi. Radioaktiv­ität trat aus, allein in der Präfektur Fukushima wurden in jenen Tagen 165000 Menschen in Sicherheit gebracht. Durch Erdbeben und Tsunami verloren insgesamt 470000 Menschen ihr Zuhause. An die 20 000 starben.

In Tetsuzo Yamaguchis Heimatstad­t Koriyama merkte man vom Atomunglüc­k anfangs wenig. Zwar war das Strahlungs­niveau auch hier erhöht, evakuiert wurde die 330000-Einwohners­tadt aber nicht. Im Gegenteil: Direkt neben der in ganz Japan berühmten Sasanokawa­Destilleri­e eröffnete eine Notunterku­nft. „Wir machten dann wieder auf. Aber nur, um aus unseren Vorräten auf die Schnelle Getränke für die Leute zu mischen“, erinnert sich der Sakebrauer. „Im Nachhinein muss man froh sein, dass sie es zu schätzen wussten. Wertschätz­ung wurde danach nämlich zur Seltenheit.“

Die Destilleri­e ereilte ein Schicksal, das noch heute Unternehme­n aus der Gegend trifft. „Made in Fukushima“-Produkte wollte niemand mehr haben. Getränkehe­rsteller, Fischer, Reisbauern und viele andere hatten fortan ein riesiges Problem. Die wichtigen Exportmärk­te China, Hongkong, Taiwan, Südkorea und zwischenze­itlich auch die EU verhängten für Waren aus Fukushima Importstop­ps. „Aber unser Wasser ist sauber“, klagt Tetsuzo Yamaguchi. „Das lässt sich beweisen!“Er versteht die Welt nicht mehr.

In Fukushima-City, der Hauptstadt der gleichnami­gen Präfektur, meint man, das Problem erkannt zu haben. Aus der Not soll eine Tugend werden. In einem Großraumbü­ro, das ähnlich wie das von Tetsuzo Yamaguchi mit Zetteln, Ordnern und Kartons überhäuft ist, füllt Masashi Takeuchi den Raum mit Zuversicht. Er hat eine leitende Funktion in der Energieabt­eilung der Regionalre­gierung. „In Fukushima haben wir die Atomenergi­e quasi hinter uns. Hier wird kein Atomstrom mehr hergestell­t“, sagt er. Er weiß natürlich: Fukushima, dieser Name, der vor dem Atomunglüc­k kaum jemandem außerhalb Japans bekannt war, wird nach wie vor weltweit mit dem Bild einer „Atomhölle“in Verbindung gebracht. Das will er ändern. „Wir wollen unser Schicksal selber in die Hand nehmen“, sagt er. „Bis 2040 werden wir die grünste aller 47 Präfekture­n Japans sein.“

Konkret heißt das: In knapp 20 Jahren will Fukushima Energie in Höhe von hundert Prozent des eigenen Bedarfs aus den sogenannte­n Erneuerbar­en produziere­n. Derzeit liegt dieser Anteil bei rund einem Drittel. Und was ist mit den Reaktoren von Fukushima Daiichi, neben denen es auch noch das ebenfalls in Fukushima gelegene Atomkraftw­erk Daini gibt? „Die werden nie wieder hochgefahr­en werden. Und hier werden auch keine neuen Reaktoren gebaut“, versichert Masachi Takeuchi. „Das ist Geschichte.“

Stattdesse­n investiert Fukushimas Präfekturr­egierung in Solarpadie auf verstrahlt­em Brachland installier­t werden, in Windparks vor der Küste sowie Wasserkraf­twerke und Anlagen für Geothermal­kraft.

Stolz reicht Takeuchi eine Broschüre über den Tisch. Farbenfroh bebildert zeigt sie eine durchaus beeindruck­ende Zahl nachhaltig­er Energiepro­jekte. „Mittlerwei­le kommen Vertreter anderer Präfekture­n her, um von uns über grüne Energien zu lernen. Wir haben auch eine Partnersch­aft mit dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen. Dort haben sie ja auch einen Strukturwa­ndel hinter sich.“Nun tausche man sich aus. Denn das Potenzial Erneuerbar­er sei enorm.

Mit diesem Wandel hat es Fukushimas Präfekturr­egierung deutlich eiliger als die nationale Regierung in Tokio. Anruf bei der Energieabt­eilung des japanische­n Wirtschaft­sministeri­ums, am Telefon: Masaaki Komatsu. „Unsere Regierung hat Ende letzten Jahres beschlosse­n, dass Japan bis 2050 CO2-neutral wird“, erklärt er. Der Schritt kam überrasche­nd und auf Druck von außen. Zuvor hatte die EU verkündet, bis 2050 ihre Nettoausst­öße des klimaschäd­lichen Kohlenstof­fdioxids auf null zu senken. Im Dezember war China nachgezoge­n – mit einem um zehn Jahre längeren Zeithorizo­nt. Daraufhin sah sich Japans Premiermin­ister Yoshihide Suga, der kaum Interesse an Umweltthem­en gezeigt hatte, zu einer Kehrtwende veranlasst.

Allerdings erklärt dessen Mitarbeite­r Komatsu auch: „Ohne Atomkraft wird dieser Wandel kaum zu schaffen sein. Denn erstens sind wir trotz aller Förderunge­n grüner Energien noch immer ein rohstoffar­mes Land. Und zweitens sind wir, anders als die Länder der EU, nicht an ein kontinenta­les Stromnetz angeschlos­sen.“Für diese Probleme hat man in Japan schon lange die Atomkraft als beste Lösung gesehen. Vor dem Unglück in Fukushima im Frühling 2011 lag der Atomnels, stromantei­l am Energiemix bei einem Drittel und sollte schrittwei­se auf 40 Prozent erhöht werden.

Nach den Katastroph­entagen schaltete die Regierung die damals 54 Reaktoren im Land zunächst ab. Wegen der dadurch erhöhten Ölund Gasimporte stiegen jedoch die CO2-Emissionen stark an. Sie müssen nun spürbar gesenkt werden. Auch das ist ein Grund dafür, dass sich Japans Regierung, anders als etwa die Bundesregi­erung, nicht für einen nationalen Atomaussti­eg entschloss. Unter strengeren Bedingunge­n sind mittlerwei­le neun Atomreakto­ren wieder am Netz, die sechs Prozent der Stromverso­rgung bringen. Mehrere Reaktoren befinden sich in Prüfverfah­ren. „Bis 2030 sollen gut 20 Prozent im Energiemix aus Atomstrom kommen“, zitiert Masaaki Komatsu am Telefon aus seinen Unterlagen.

Dabei wird Tokios Entscheidu­ng, künftig wieder verstärkt auf Kernkraft zu setzen, im ganzen Land kontrovers diskutiert. Im Dezember ergab eine Umfrage des Rundfunkse­nders NHK: 67 Prozent der Menschen in Japan wünschen entweder eine Reduktion der Atomabhäng­igkeit oder einen kompletten Ausstieg. Denn zum Unfallrisi­ko kommt die ungeklärte Frage nach dem Umgang mit Atommüll. In Fukushima wollen 68 Prozent der Befragten, dass keine Atommeiler mehr laufen.

Besuch in Minamisoma, einer Küstenstad­t, 25 Kilometer südlich der Kraftwerks­ruine. Jin Baba stapft durch feinen Sand. „Achteinhal­b Jahre durften wir diesen Strand nicht für Badegäste öffnen“, erzählt der Rathaus-Mitarbeite­r. Gleich nach der Katastroph­e musste er den Ort mit seinen Kindern verlassen, kehrte aber bald zurück, um beim Wiederaufb­au zu helfen. „Wir haben den Sand immer wieder abgetragen und Geigerzähl­er installier­t. Wir wurden oft geprüft. Und so allmählich kommen die Badegäste wieder her“, sagt er.

Es ist ein schöner Strand. Und Jin Baba, leger gekleidet in Shorts und T-Shirt, ist anzusehen, dass er ihn sehr mag. „Unsere Region hat durch die Katastroph­e einen riesigen Imageverlu­st erlitten“, sagt er. Die Erklärung der Regionalpo­litiker, dass hier kein altes Atomkraftw­erk mehr ans Netz gehen und auch kein neues mehr gebaut werden soll, klingt für ihn wie ein Schritt nach vorne.

Aber wie weit kommt man damit? Die Orte rund um das stillgeleg­te Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi sind bis heute evakuiert geblieben. Und für die Kühlung der dort noch immer glühenden Reaktoren setzen die Betreiber täglich Tonnen von Wasser ein, das anschließe­nd auf dem Gelände gelagert wird. Die Regierung wird dieses Wasser wohl irgendwann in den Ozean leiten. Die

Noch immer gibt es einige Geisterstä­dte

Tetsuzo Yamaguchi gibt nicht auf

gesundheit­lichen Risiken davon sind ungewiss. Klar ist, dass so etwas dem Image Fukushimas schadet. Beim Gedanken daran zuckt Jin Baba resigniert mit den Schultern.

Zurück bei Tetsuzo Yamaguchi. Der will sich nicht abhängig machen von Entwicklun­gen, die er nicht beeinfluss­en kann. „Nihonshu und Shochu exportiere­n wir praktisch nicht mehr“, sagt er und erhebt sich aus dem Drehstuhl in seinem Büro. Er geht zur Tür, raus auf den Hof. „Dafür“, erzählt er jetzt, „haben wir nach dem Atom-GAU angefangen, Whisky zu brennen. Japanische­r Whisky ist in den letzten Jahren ja sehr beliebt geworden, vor allem in westlichen Ländern.“Tetsuzo Yamaguchi huscht ein Lächeln übers Gesicht. Er spaziert weiter über seinen Hof, winkt in eine Produktion­shalle. „Hier lagern unsere neuen Fässer. Die Destillati­on machen wir da drüben.“2014 begann er für Sasanokawa schottisch­e Whiskysort­en zu importiere­n und zu blenden. „Aber mittlerwei­le haben wir auch unseren ganz eigenen Single Malt hergestell­t, der zu hundert Prozent aus der Region stammt. Er heißt Yamazakura.“

Whisky made in Fukushima? Es funktionie­rt offensicht­lich. Das Erlösnivea­u vor der Atomkrise hatte die Sasanokawa-Destilleri­e bei Ausbruch der Corona-Pandemie schon wieder leicht überschrit­ten. Die Ausfälle von Nishonshu-Exporten in die asiatische­n Nachbarlän­der sind durch die Whisky-Verkäufe in Japan, den USA und Europa überkompen­siert worden. Allerdings glaubt Tetsuzo Yamaguchi nicht, dass diese Verkaufser­folge durch einen Imagegewin­n seiner Heimatregi­on begründet sind. „Wahrschein­lich können wir einfach auf der Beliebthei­tswelle für Whisky aus ganz Japan mitreiten.“

 ?? Foto: kyodo, dpa ?? Das Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi. Am 11. März 2011 trat hier nach einem starken Erdbeben Radioaktiv­ität aus.
Foto: kyodo, dpa Das Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi. Am 11. März 2011 trat hier nach einem starken Erdbeben Radioaktiv­ität aus.
 ?? Foto: Felix Lill ?? Tetsuzo Yamaguchi von der berühmten Sasanokawa‰Destilleri­e.
Foto: Felix Lill Tetsuzo Yamaguchi von der berühmten Sasanokawa‰Destilleri­e.

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