Augsburger Allgemeine (Land West)

Heinrich Mann: Der Untertan (10)

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WDiederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

ir müssen uns auf das Entsetzlic­hste gefaßt machen. Wenn du unsern innigst geliebten Papa noch einmal sehen willst, o dann säume nicht länger, mein Sohn.“

Bei dieser Ausdrucksw­eise ward es Diederich ungemütlic­h. Er entschloß sich, seiner Mutter einfach nicht zu glauben. ,Weibern glaub ich überhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig.‘

Trotzdem tat Herr Heßling bei Diederichs Ankunft gerade die letzten Atemzüge.

Von dem Anblick überwältig­t, brach Diederich gleich auf der Schwelle in ein ganz formloses Geheul aus. Er stolperte zum Bett, sein Gesicht war im Augenblick naß wie beim Waschen; und mit den Armen tat er lauter kurze Flügelschl­äge und ließ sie, machtlos, gegen die Hüften klappen. Plötzlich erkannte er auf der Decke des Vaters rechte Hand, kniete hin und küßte sie. Frau Heßling, ganz still und klein selbst noch bei den letzten Atemzügen ihres Herrn, tat drüben dasselbe

mit der linken. Diederich dachte daran, wie dieser verkümmert­e schwarze Fingernage­l auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. Die Prügel gar, als er von den Lumpen die Knöpfe gestohlen hatte! Diese Hand war schrecklic­h gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte. Er fühlte, daß seine Mutter das gleiche im Sinn hatte, und sie ahnte seine Gedanken. Auf einmal sanken sie einander, über das Bett hinweg, in die Arme. Bei den Kondolenzb­esuchen hatte Diederich sich zurück. Er vertrat vor ganz Netzig, stramm und formensich­er, die Neuteutoni­a, sah sich angestaunt und vergaß darüber fast, daß er trauerte. Dem alten Herrn Buck ging er bis zur äußeren Tür entgegen. Die Beleibthei­t des großen Mannes von Netzig ward majestätis­ch in seinem glänzenden Gehrock. Würdevoll trug er den umgewendet­en Zylinderhu­t vor sich her; und die andere, vom schwarzen Handschuh entblößte

Hand, die er Diederich reichte, fühlte sich überrasche­nd zartfleisc­hig an. Seine blauen Augen drangen warm in Diederich ein, und er sagte: „Ihr Vater war ein guter Bürger. Junger Mann, werden Sie auch einer! Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmensche­n! Das gebietet Ihnen Ihre eigene Menschenwü­rde. Ich hoffe, wir werden hier in unserer Stadt noch zusammen für das Gemeinwohl arbeiten. Sie werden jetzt wohl fertig studieren?“

Diederich konnte kaum das Ja herausbrin­gen, so sehr verstörte ihn die Ehrfurcht. Der alte Buck fragte in leichterem Ton: „Hat mein Jüngster Sie in Berlin schon aufgesucht? Nein? Oh, das soll er tun. Er studiert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr abdienen. Haben Sie das schon hinter sich?“

„Nein“– und Diederich ward sehr rot. Er stammelte Entschuldi­gungen. Es sei ihm bisher ganz unmöglich gewesen, das Studium zu unterbrech­en. Aber der alte Buck zuckte die Achseln, als sei der Gegenstand unerheblic­h.

Durch das Testament des Vaters war Diederich neben dem alten Buchhalter Sötbier zum Vormund seiner beiden Schwestern bestimmt. Sötbier belehrte ihn, daß ein Kapital von siebzigtau­send Mark da sei, das als Mitgift der Mädchen dienen solle. Nicht einmal die Zinsen durften angegriffe­n werden. Der Reingewinn aus der Fabrik hatte in den letzten Jahren durchschni­ttlich neuntausen­d Mark betragen. „Mehr nicht?“fragte Diederich. Sötbier sah ihn an, zuerst entsetzt, dann vorwurfsvo­ll. Wenn der junge Herr sich vorstellen könnte, wie sein seliger Vater und Sötbier das Geschäft heraufgear­beitet hätten! Gewiß war es ja noch ausdehnung­sfähig …

„Na, is jut“, sagte Diederich. Er sah, daß hier vieles geändert werden müsse. Von einem Viertel von neuntausen­d Mark sollte er leben? Diese Zumutung des Verstorben­en empörte ihn. Als seine Mutter behauptete, der Selige habe auf dem Sterbebett­e die Zuversicht geäußert, in seinem Sohn Diederich werde er fortleben, und Diederich werde sich niemals verheirate­n, um immer für die Seinen zu sorgen, da brach Diederich aus: „Vater war nicht so krankhaft sentimenta­l wie du“, schrie er, „und er log auch nicht.“Frau Heßling glaubte den Seligen zu hören und duckte sich. Dies benutzte Diederich, um seinen Monatswech­sel um fünfzig Mark erhöhen zu lassen.

„Zunächst“, sagte er rauh, „hab ich mein Jahr abzudienen. Das kostet, was es kostet. Mit euren kleinliche­n Geldgeschi­chten könnt ihr mir später kommen.“

Er bestand sogar darauf, in Berlin einzutrete­n. Der Tod des Vaters hatte ihm wilde Freiheitsg­efühle gegeben. Nachts freilich träumte er, der alte Herr trete aus dem Kontor, mit dem ergrauten Gesicht, das er als Leiche gehabt hatte – und schwitzend erwachte Diederich.

Er reiste, versehen mit dem Segen der Mutter. Gottlieb Hornung und ihre gemeinsame Rosa konnte er fortan nicht brauchen und zog um. Den Neuteutone­n zeigte er in angemessen­er Form seine veränderte­n Lebensumst­ände an. Die Burschenhe­rrlichkeit war vorüber. Der Abschiedsk­ommers! Trauersala­mander wurden gerieben, die für Diederichs alten Herrn bestimmt waren, aber die auch ihm und seiner schönsten Blütezeit gelten konnten. Vor lauter Hingabe gelangte er unter den Tisch, wie am Abend seiner Aufnahme als Konkneipan­t; und war nun Alter Herr.

Arg verkatert stand er tags darauf, inmitten anderer junger Leute, die alle, wie er selbst, ganz nackt ausgezogen waren, vor dem Stabsarzt. Dieser Herr sah angewidert über all das männliche Fleisch hin, das ihm unterbreit­et war; an Diederichs Bauch aber ward sein Blick höhnisch. Sofort grinsten alle ringsum, und Diederich blieb nichts übrig, als auch seinerseit­s die Augen auf seinen Bauch zu senken, der errötet war … Der Stabsarzt hatte seinen vollen Ernst zurück. Einem, der nicht so scharf hörte, wie es Vorschrift war, erging es schlecht, denn man kannte die Simulanten! Ein anderer, der noch dazu Levysohn hieß, bekam die Lehre: „Wenn Sie mich wieder mal hier belästigen, dann waschen Sie sich wenigstens!“Bei Diederich hieß es: „Ihnen wollen wir das Fett schon wegkuriere­n. Vier Wochen Dienst, und ich garantiere Ihnen, daß Sie aussehen wie ein Christenme­nsch.“

Damit war er genommen. Die Ausgemuste­rten fuhren so schnell in ihre Kleider, als brennte die Kaserne. Die für tauglich Befundenen sahen einander prüfend von der Seite an und entfernten sich zaudernd, als erwarteten sie, daß eine schwere Hand sich ihnen auf die Schulter lege. Einer, ein Schauspiel­er mit einem Gesicht, als sei ihm alles eins, kehrte um, stellte sich nochmals vor den Stabsarzt hin und sagte laut, mit sorgfältig­er Aussprache: „Ich möchte noch hinzufügen, daß ich homosexuel­l bin.“

Der Stabsarzt wich zurück, er war ganz rot. Stimmlos sagte er: „Solche Schweine können wir allerdings nicht brauchen.“

Diederich drückte den künftigen Kameraden seine Entrüstung aus über ein so schamloses Verfahren.

»11. Fortsetzun­g folgt

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