Augsburger Allgemeine (Land West)

Was geschah mit Jonathan?

Schicksal Vor einem Jahr starb ein 19-Jähriger am Bahnhof Augsburg-Hochzoll. Seine Eltern fielen in ein tiefes Loch. Nun wollen sie herausfind­en, was in den Stunden vor seinem Tod passiert ist

- VON JAN KANDZORA

Im Erdgeschos­s des Reihenhaus­es der Familie Heyen liegt ein Handy, das seit Monaten nicht ausgeschal­tet worden ist. Es gehörte einem jungen Mann namens Jonathan, und es ist noch alles drauf: Fotos und Apps und Daten, die ein Smartphone so ansammelt, alleine schon, weil man es bei sich trägt. Das Handy ist für Karin Heyen und Markus Renner zu einem Symbol geworden: eine Verbindung zu ihrem Sohn, die niemals abbricht. Aber es ist mehr als das. Vielleicht, so der Gedanke der Eltern, verbirgt sich irgendwo in diesem Handy eine Antwort auf die Frage, warum ihr Sohn vor etwas mehr als einem Jahr am Bahnhof in Augsburg-Hochzoll starb. Vielleicht gibt es endlich eine Antwort.

Damals, am 9. Februar 2020, klingelte die Polizei in den frühen Morgenstun­den bei der Familie in Kissing – zusammen mit einem Mann vom Kriseninte­rventionst­eam des Roten Kreuzes. Jonathan sei gestorben, sagte ein Beamter. Ihr Sohn habe im Bahnhof in AugsburgHo­chzoll auf den Gleisen gelegen, er sei von einem Güterzug erfasst worden, mitten in der Nacht. Karin Heyen und Markus Renner, die Eltern von Jonathan, erinnern sich daran, dass sie wirres Zeug redeten, im Haus herumginge­n „wie aufgescheu­chte Hühner“, wie es Karin Heyen sagt. Daran, dass der Polizist um ein Foto von Jonathan bat. Daran, dass sie der Nachbarin Bescheid gaben, sie möge bitte rüberkomme­n. Daran, dass für sie eine Welt zusammenbr­ach, die sich seither nicht wieder zusammenge­setzt hat.

Es ist die schlimmste Erfahrung, die Eltern sich vorstellen können: dass das eigene Kind stirbt. „Es war ein Schock, ein Trauma, der Körper verfällt in einen Notfallbet­rieb“, sagt Markus Renner. „Es ist die ersten Wochen und Monate alles in Watte. Sonst würde man keinen Tag überleben.“Er sitzt an diesem Tag zusammen mit seiner Lebenspart­nerin an ihrem Wohnzimmer­tisch in einem Reihenhaus in Kissing, beide erzählen, wie es ihnen geht, was sie durchgemac­ht haben, was für Fragen sie zu Jonathans Tod haben, die vielen offenen Fragen. Das Handy ihres toten Sohnes wird in der Küche geladen, es ist angeschalt­et, wie immer.

Jonathan war 19, als er starb. Ein junger Mann, den viele im Ort kannten und mochten. Ein junger Mann, der auf die Fachobersc­hule in Friedberg ging, sein Fachabi machen wollte und stolz darauf war, die Probezeit gerade überstande­n zu haben. Der einen großen Freundeskr­eis hatte, Kumpels aus unterschie­dlichen Bereichen, mit denen er viel unternahm. Der seit einiger Zeit gerne mal feiern ging, wie 19-Jährige es so tun. Der den FC Barcelona liebte, den Fußball allgemein, und schon in seiner Kindheit so talentiert gewesen war, dass Borussia Dortmund ihn zum Training einlud, auch unsere Zeitung berichtete damals darüber. Doch Profisport­ler, sagt seine Mutter, habe ihr Sohn nicht werden wollen, das habe er früh entschiede­n und genau gewusst.

In den ersten Wochen nach seinem Tod, sagen seine Eltern, kamen viele Kumpels von ihm vorbei, Freunde der Familie auch. Um sich auszutausc­hen, über Jonathan zu sprechen, um Anteilnahm­e auszudrück­en und die eigene Fassungslo­sigkeit und Trauer. Und um zuzuhören. Sie weinten gemeinsam, manchmal lachten sie auch, wenn es um Anekdoten aus Jonathans Leben ging. Das half, sagen seine Eltern. Solche Gesten der Menschlich­keit, sagt Markus Renner, seien bis heute geblieben. Es half beiden auch, die Trauerfeie­r zu organisier­en und die Beerdigung vorzuberei­ten. Sie sei viel mit ihrer Nachbarin und ihren Hunden Gassi gegangen, sagt Karin Heyen. Irgendwie hangelten sie sich durch die ersten Wochen und Monate. Sie erlebten auch, wie hilfsberei­t Menschen in der Not sein können. Der Diakon der örtlichen Gemeinde, die Schulleite­rin von Jonathans Schule: Viele Menschen hätten große Unterstütz­ung geboten, seine Eltern. Das brachte sie durch die erste Zeit, doch erträglich war und ist die Situation für die Eltern bis heute nicht. Auch für Jonathans Geschwiste­r, sagt seine Mutter, sei es unfassbar hart.

Freunde der Familie brachten in den ersten Wochen öfter etwas Warmes zu essen vorbei, unterstütz­ten die Familie im Alltag. „Zum Kochen wären wir gar nicht mehr in der Lage gewesen“, sagt Markus Renner. Karin Heyen begab sich in Therapie, bis heute ist sie krankgesch­rieben. Die erste Zeit, sagt sie, habe sie „eigentlich gar nichts mehr gemacht, ich konnte nicht essen, nicht rausgehen. Es war ein Aushalten von Tablette zu Tablette“. Markus Renner stürzte sich in die Arbeit, um sich abzulenken, um etwas zu tun. Und er begann zu recherchie­ren, was vor Jonathans Tod passiert sein könnte.

Die Polizei habe durch die Umstände des Todes in der Nacht im Februar an einen möglichen Suizid gedacht, sagen Jonathans Eltern. Wofür vor allem sprach, dass Jonathan mitten in der Nacht auf den Gleisen eines Bahnhofs lag. Es gibt für diese Art der Selbsttötu­ng einen eigenen Begriff, „Schienensu­izid“. War es so? Die Eltern konnten und wollten dies nicht glauben. Nichts, sagen sie heute, habe zuvor darauf hingedeute­t, dass ihr Sohn suizidgefä­hrdet war. Nichts deute für sie heute darauf hin. Es gibt Fälle, in denen sich der Suizid eines Menschen auch für nahe Angehörige nicht ankündigt, es keine Hinweise gibt für sie, nur den späteren Schock. Aber es gibt eben auch Fälle, in denen ein Todesfall auf den ersten Blick wie eine Selbsttötu­ng aussehen könnte, aber etwas anderes dahinter steckt, zum Beispiel ein unglücklic­her Unfall. Und falls es einen Anlass, einen Auslöser, eine dunkle Epoche in Jonathans Leben gegeben haben könnte, wissen Markus Renner und Karin Heyen bis heute nichts davon, trotz aller Ermittlung­en. Von der Staatsanwa­ltschaft, die die Ermittlung­en zwischenze­itlich eingestell­t hat, heißt es auf Anfrage, es gebe jedenfalls „keine Hinweise auf ein schuldhaft­es Verhalten Dritter“. Für Ermittlung­sbehörden ein entscheide­ndes Kriterium. Das heißt: Es könnte ein Unfall gewesen sein. Aber man weiß es eben nicht genau.

Markus Renner klopfte die Wochen nach Jonathans Tod selbst an einige Türen. Er wertete Fotos aus, schaute sich den Bahnhof Hochzoll an, wieder und wieder, versuchte, die Nacht vor Jonathans Tod zu resagen konstruier­en. Was sich rekonstrui­eren lässt, haben die Eltern auf einer Facebook-Seite dargestell­t, mit der sie auf weitere Hinweise zum Tod ihres Sohnes hoffen. Demnach war Jonathan in der Nacht mit Freunden in Augsburg feiern, man trank etwas, besuchte eine Bar in der Maxstraße, ein normaler Abend von jungen Erwachsene­n. Um kurz vor Mitternach­t stieg Jonathan in den Zug nach Kissing. Er kam dort allerdings nie an, sondern stieg in Hochzoll alleine aus. Warum, sei bis heute ungeklärt, sagen seine Eltern, und es sei für ihren Sohn auch völlig untypisch gewesen, ohne seine Freunde weiterzuzi­ehen. Nach dem, was die Eltern von Jonathan in Erfahrung gebracht haben, soll ihr Sohn in der Nacht sowohl im Hochzoller Bahnhof als auch in der Disco „Ostwerk“gesehen worden sein, dort gegen 2.30 Uhr. Eine Stunde später starb er auf den Gleisen. Es klafft eine Lücke in den Stunden vor Jonathans Tod, die bislang niemand füllen konnte. Seine Eltern erhoffen sich durch den Aufruf auf Facebook, dass das Rätsel um die Stunden vor seinem Tod gelöst wird. Und es eine Antwort gibt, endlich eine Antwort. ⓘ

Info Die Facebook‰Seite der Familie finden Sie unter https://www.face‰ book.com/infoszumfa­ll.jonathan.7

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Foto: Silvio Wyszengrad Jonathan ist vor etwa einem Jahr am Hochzoller Bahnhof ums Leben gekommen.

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