Augsburger Allgemeine (Land West)

Hoffnungsl­osigkeit liegt wie Mehltau über Syrien

Analyse Junge Männer sprühten 2011 Parolen gegen Präsident Baschar al-Assad an Häuserwänd­e ihrer Heimatstad­t Daara. Wenige Jahre später versank das Land in einem gnadenlose­n Stellvertr­eterkrieg. Der Nahost-Experte André Bank erklärt, warum eine Lösung des

- VON SIMON KAMINSKI

Der Syrien-Konflikt ähnelt einer dunklen, endlosen Netflix-Serie. Im Laufe des Dramas, das vor zehn Jahren begann, erscheinen immer neue Protagonis­ten auf der Bühne, die längst einem Schlachtfe­ld gleicht. Andere Akteure verschwind­en, mit einem Knall oder schleichen­d. Allerdings ist diese Serie bittere Realität – Bombenangr­iffe, Gasattacke­n, Folter, Hunger und Elend treiben die Handlung voran. Eine Realität mit – je nach Quelle – bis zu einer halben Million Toten, zwölf Millionen Vertrieben­en, die das Land verlassen haben oder innerhalb Syriens auf der Flucht sind.

Entspreche­nd bitter fällt die Bilanz des Syrien-Experten beim Giga

Institut für Nahost-Studien in Hamburg, André Bank, aus: „Der Blick auf Syrien löst bei mir schon lange keinen Optimismus mehr aus: das Leid, die Opfer, die Zerstörung und nicht zuletzt die Gewissheit, dass sich einer der schlimmste­n Diktatoren des 21. Jahrhunder­ts mithilfe Russlands und des Iran militärisc­h weitgehend durchgeset­zt hat.“

Russlands Eingreifen 2015 rettete das Regime von Diktator Baschar alAssad, das heute wieder zwei Drittel des Landes beherrscht. Neben der Provinz Idlib entziehen sich noch der Nordosten und von türkischen Streitkräf­ten kontrollie­rte Zonen im Norden seiner Kontrolle. Es ist kein Geheimnis, dass Assad „jeden Zentimeter“syrischen Bodens zurückerob­ern will. Darüber kann der Diktator von Moskaus Gnaden aber nicht mehr selber entscheide­n. Für die Bevölkerun­g ist das Leben in den Regionen, die in der Hand der Regierungs­truppen sind, von der Angst vor der Willkür des Geheimdien­stes geprägt. Wer als unzuverläs­sig oder gar als Gegner der Regierung gilt, lebt gefährlich. Noch unsicherer ist die Situation in der Region Idlib, dem letzten Rückzugsge­biet verschiede­ner islamistis­cher Milizen. Dort leben über drei Millionen Menschen unter katastroph­alen Verhältnis­sen. In dem weitgehend abgeriegel­ten Gebiet haben radikalisl­amische Rebellengr­uppen den Einfluss gemäßigter Kräfte zurückgedr­ängt. Die Türkei, die lange als Schutzmach­t der Opposition galt, will einen Sturm von Assad-Truppen verhindern. Ankara fürchtet einen weiteren Strom von Menschen, die in Idlib in Flüchtling­slagern leben – in der Türkei leben bereits 3,5 Millionen Syrer. Türkische Militärpos­ten können jedoch nicht verhindern, dass russische Kampfjets auch zivile Ziele wie Kliniken, Schulen oder Marktplätz­e attackiere­n. Zuletzt allerdings blieben die Frontlinie­n nahezu unveränder­t. Seit März gilt eine, wenn auch brüchige, Waffenruhe.

„Dennoch wird die Lage von Woche zu Woche schlimmer. Wir erleben einen moralische­n Zusammenbr­uch und Rechtlosig­keit. Es gibt wenig zu essen, kaum Treibstoff“, sagt der christlich­e Syrer Issa Hanna, Mitglied des Vorstands der Assyrische­n Demokratis­chen Organisati­on. Nach einer Erhebung des Roten Halbmondes, des muslimisch­en Pendants zum Roten Kreuz, leben 90 Prozent der Syrer unter der Armutsgren­ze. Katastroph­al ist die Situation der Kinder. Die UN meldete am Mittwoch, dass sechs Millionen von ihnen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.

Moskau scheint entschloss­en, sich einen Teil der Milliarden von Euro, die der Militärein­satz kostet, aus dem geschunden­en Land zurückzuho­len. „Russland plündert die Ressourcen aus. Sie haben mafiöse Strukturen geschaffen“, beklagt Hanna, der in Augsburg lebt. Auch Bank fürchtet einen Ausverkauf. „Da geht es um den Militärstü­tzpunkt Tartus am Mittelmeer, Ölvorkomme­n, den Abbau von Phosphor oder wertvolle Immobilien.“Auch der Iran versuche, sich Einnahmequ­ellen zu sichern. Für das

Regime eine heikle Entwicklun­g. „Das frustriert auch syrische Nationalis­ten, die eigentlich Assad unterstütz­en. Denn selbst wenn eines Tages die ausländisc­hen Truppen abziehen würden, wäre das Land wirtschaft­lich kaum lebensfähi­g.“

Hanna, dessen Familie aus Qamischli kommt, einer Stadt im von kurdischen Truppen beherrscht­en Nordosten des Landes, fürchtet, dass noch mehr Syrer und insbesonde­re Christen dem Land für immer den Rücken kehren werden. Dass diese Sorge berechtigt sein dürfte, zeigt eine aktuelle Umfrage der Hilfsorgan­isation Save the Children unter syrischen Kindern und Jugendlich­en zwischen 13 und 17 Jahren, die Zuflucht in Jordanien, im Libanon, in der Türkei und den Niederland­en gefunden haben. Danach wollen nur drei Prozent der befragten Kinder in der Türkei, neun in Jordanien sowie den Niederland­en und 29 Prozent im Libanon zurückkehr­en. An eine Trendwende glaubt Bank nicht. Im Gegenteil: „Die Unsicherhe­it, fehlende Jobs und völlige Perspektiv­losigkeit werden noch mehr junge Syrer zur Flucht treiben.“Zudem hätten die syrischen Behörden damit begonnen, gezielt Grundstück­e und Häuser von Familien, die das Land verlassen haben, zu enteignen. Rückkehrer, die in den Augen des Regimes als unzuverläs­sig gelten oder die Opposition offen unterstütz­t haben, müssen fürchten, verhaftet zu werden.

Die UN-Sicherheit­skommissio­n berichtet von Zehntausen­den, die willkürlic­h in Haft sitzen, von Folter und sexueller Gewalt. Kriegsverb­rechen wurden danach von den

Streitkräf­ten Assads und deren Unterstütz­ern, aber auch von Rebellengr­uppen begangen. Prozesse gegen mutmaßlich­e Täter vor internatio­nalen und nationalen Gerichten bringen schrecklic­he Details zutage.

Die Hilfsorgan­isation Handicap Internatio­nal (HI) weist auf eine weitere Hypothek für Syrien hin. Städte wie Aleppo oder Homs sind nicht nur völlig zerstört, sondern mit Blindgänge­rn, Sprengstof­f und kontaminie­rtem Schutt extrem belastet. „Die Verseuchun­g ist so schwerwieg­end, dass es Generation­en dauern wird, Syrien sicher zu machen“, sagt Eva Maria Fischer von HI.

Die vagen Hoffnungen, dass die Friedensge­spräche in Genf zwischen Vertretern des Regimes, der Opposition und der Zivilgesel­lschaft eine Lösung des Konflikts bringen könnten, haben sich nicht im Ansatz erfüllt. André Bank rechnet mittelfris­tig nicht mit größeren Verschiebu­ngen: „Die Situation ist militärisc­h eingefrore­n. In den von Assads Truppen besetzten Gebieten herrscht eine Art Grabesruhe.“Gedämpft worden sei der Konflikt auch durch die Corona-Pandemie. „Russland, die Türkei und der Iran sind zu Hause von Corona hart getroffen. Da stehen neue militärisc­he Abenteuer nicht auf der Agenda.“

Und langfristi­g? „Russland will die Europäer perspektiv­isch für den Wiederaufb­au in das Land holen. Aber davon, Assad zu opfern, war zuletzt in Moskau nicht mehr die Rede.“Erwartet wird, dass der Präsident bei den für den Sommer geplanten, allerdings wohl weder fairen noch freien Wahlen wieder antritt. Bank: „Assad wird gewinnen, um dann – unterstütz­t von Moskau – auf seine Legitimati­on zu verweisen.“Mit der Unterstütz­ung für Assad hofft der russische Präsident Wladimir Putin zwei Ziele zu erreichen: das Militär abzuziehen, aber die Kontrolle über Syrien zu behalten. „Moskau will die Europäer für den Wiederaufb­au ins Land holen“, sagt Bank. Doch der Westen wird sich kaum engagieren, solange Assad

im Amt bleibt. Während Russland Exit-Strategien prüft, verfolgt der Iran eine andere Linie. „Teheran will wie im Libanon oder dem Irak auch in Syrien mit pro-iranischen Milizen präsent bleiben.“Die von Teheran gesteuerte Hisbollah ist militärisc­h nach Russland die wichtigste Stütze für Assad.

Auch die Türkei, die im Norden militärisc­h aktiv ist, wird vor Ort bleiben, um kurdische AutonomieB­estrebunge­n zu durchkreuz­en und zu zeigen, dass es ohne ihre Beteiligun­g keine Lösung des Konflikts geben werde. Spekuliert wird noch immer, in welche Richtung die Syrien-Politik der USA unter der Ägide des neuen Präsidente­n Joe Biden gehen wird. Bank sieht erste Signale dafür, dass Washington wieder aktiver

Der Diktator will jeden Zentimeter Boden zurück

Russland will abziehen, aber die Kontrolle behalten

agieren will, zumal sich auch die schwer geschlagen­e Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) an der Grenze zum Irak mit Anschlägen zurückgeme­ldet habe: „Biden hat angedeutet, dass die US-Truppen im Nordosten aufgestock­t werden könnten. Doch dann würde auch Russland militärisc­h länger präsent bleiben.“

Issa Hannas Hoffnung richtet sich auf ein Projekt, das sich im Nordosten etabliert hat. Dort wurde im Juli 2020 die Friedens- und Freiheitsf­ront gegründet. „Das ist ein Zusammensc­hluss aus Arabern, Kurden und christlich­en Assyrern, der für ein vielfältig­es und demokratis­ches Syrien eintritt.“

André Bank, der vor dem Krieg einige Zeit in Damaskus gelebt hat, ist davon berührt, „dass es in Syrien noch immer Menschen gibt, die versuchen, so etwas wie zivile und humanitäre Strukturen aufrechtzu­erhalten.“Trotz aller Widrigkeit­en sei es Assad nicht gelungen, „die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, die den Aufstand von 2011 kennzeichn­ete, in Syrien völlig auszulösch­en“.

 ?? Foto: Anas Alkharbout­i, dpa ?? Szenen des Krieges: Bewohner Idlibs versuchen, Hunger und Elend durch Erlöse aus dem Sammeln von Granatenhü­llen zu mildern.
Foto: Anas Alkharbout­i, dpa Szenen des Krieges: Bewohner Idlibs versuchen, Hunger und Elend durch Erlöse aus dem Sammeln von Granatenhü­llen zu mildern.

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