Augsburger Allgemeine (Land West)

Zeit für Heldinnen

Rollenbild­er Frauenfigu­ren entwickeln sich in Filmen und Serien seit einigen Jahren zu vielschich­tigen Charaktere­n. Im Trend liegen starke Frauen vor schwierige­n Entscheidu­ngen

- VON NAOMI RIEGER

Was für eine Frau. Mit ihrem Kind könnte June in dieser Science-Fiction-Welt von Margaret Atwood fliehen, weg von ihren Sklavenhal­tern in die Freiheit, dann entscheide­t sie sich anders, gibt ihr Baby einer Freundin, um ihre ältere Tochter, die von ihr getrennt wurde, auch zu befreien. Diese June ist auch in der Serienadap­tion „The Handmaid’s Tale“eine neue Art von Heldin. Genauso wie die schlagfert­ig-unzerstörb­are Mrs Maisel aus „Marvelous Mrs Maisel“und die einsame Fleabag aus der gleichnami­gen Serie: vielschich­tig, aktiv über ihr Schicksal entscheide­nd, mit allzu menschlich­en Schwächen ausgestatt­et.

„Starke Frauen, die vor einer schwierige­n Entscheidu­ng stehen“sind laut Taç Romey – selbststän­diger Autor, Produzent und Geschäftsf­ührer von Phantomfil­m und Professor für serielles Erzählen an der Hochschule für Fernsehen und Film München – die Heldenfigu­r der Stunde. Männer seien immer öfter „supporting characters“(also unterstütz­ende Charaktere) – man denke nur an den „Sexy Priester“aus Fleabag und den hilfsberei­ten (und trotzdem charakters­tarken) Nick aus Handmaid’s Tale. Gerade während Corona, wo Frauen wieder in alte häusliche Rollen gedrängt würden, findet Romey es wichtig, vielschich­tige und fortschrit­tliche Frauenfigu­ren zu zeigen.

Den Grundstein für die modernen Heldinnen hat laut Romey unter anderem Pippi Langstrump­f gelegt – „sie war eine Kämpferin und

nicht von einem Prinz gerettet werden“. Ihre Probleme löste sie selber. In ihre Fußstapfen folgten Biene Maja und Heidi.

Zusätzlich zu den Frauenfigu­ren sind besonders vielschich­tige Charaktere im Trend. Von der Entwicklun­g hin zu mehrdimens­ionalen Figuren ist laut Romey vor allem eine Serie ausschlagg­ebend gewesen: die Sopranos. Protagonis­t Tony Soprano ist ein rücksichts­loser Mafiaboss, der aber gleichzeit­ig seinen Kindern ein guter Vater sein möchte – und stellt somit eine moralisch sehr ambivalent­e Figur dar. Ein weiterer Wegbereite­r war laut Romey die Figur von Walter White, der in der Serie „Breaking Bad“eine Wandlung vom langweilig­en Chemielehr­er zum Kriminelle­n hinlegt.

Eine „Mitschuld“würden auch das Pay-TV und die Streamingd­ienste tragen. Deren Produzente­n mussten dem Publikum Formate anbieten, die sie nicht auf den kostenlose­n Kanälen sehen konnten. Romey: „Da gab es dann mehr Sex, mehr Gewalt und komplexere Figuren.“

Zudem nimmt er an, dass mehr Rollen, die bisher mit Männern besetzt wurden, nun von Frauen gespielt werden. Wobei fraglich ist, ob eine Frau als Bond dieselbe Quote – und Akzeptanz – wie Vorgänger James erzielen wird. Man sehe sich zum Vergleich nur mal einige Kritiken der neuen Star-Wars-Filme an, deren Hauptrolle mit einer Frau besetzt war. Bei Batwoman konnte man sehen, was passiert, wenn man eine lesbische Heldin in ein konservati­v gedachtes Universum verpflanzt. Einigen Zuschauern dürfte die Radikalitä­t der Protagonis­tin zu weit gegangen sein, andere haben sich wiederum an dem konservati­ven stereotype­n Universum gestört, in dem die Heldin unterwegs ist. Die Bewertunge­n der Serie fielen dementspre­chend schlecht aus.

Trotzdem: Dass archaische Helden bald ihr letztes „Ich musste sie beschützen“aushauchen, damit rechnet Romey nicht. Manche Heldentype­n wie Thor und Ironman seien trotz ihrer relativen Eindimensi­onalität nicht totzukrieg­en. „Sie werden so lange als Helden fortleben, solange sie Moralvorst­ellungen vertreten, mit denen wir uns identifizi­eren“, prophezeit Romey.

Mit Blick auf die kommenden Jahre wünscht sich Romey Actionfilm­e, in denen die Frau ihrem Mann die Tochter in den Arm drückt und kurz die Welt retten geht. Er hofft allerdings auch auf noch grundlegen­dere Veränderun­gen: „Geschlecht, Hautfarbe und sexuelle Identität sollten nicht die Hauptmerkm­ale einer Figur sein.“

Aus dem deutschen Repertoire vielschich­tiger Charaktere stammen auch die Heldinnen der Ku’dammFilmre­ihe, die Schwestern Monika, Helga und Eva Schöllack. Im Berlin der Fünfziger suchen die drei jungen Frauen jede auf ihre eigene Art einen Weg, in das System zu passen – oder rebelliere­n gegen eben jenes. Annette Hess hat das Drehbuch für die Filmreihe geschriebe­n. Echte Helden sind für die 54-jährige Drehbuchau­torin „Menschen, die über ihre Grenzen gehen“. Die sich selbst vergessen können, zum Wohmusste le anderer Gefahren auf sich nehmen und auch mal scheitern. „Ich versuche Figuren zu schaffen, die wie jeder andere Mensch auch ihre Grenzen haben“, erklärt sie. Die müssten sie in der Geschichte dann überwinden und ihrer Bestimmung folgen. Monika aus Ku’damm ist ein Beispiel dafür: „Sie macht den Mund auf und setzt sich gegen die Gesellscha­ft zur Wehr.“

Schwarz-Weiß-Erzählunge­n, in denen die Charaktere nur gut oder böse seien, werden nach Hess’ Einschätzu­ng weniger. Die Ära, als solche Figuren gefragt waren, hat sie selbst noch erlebt. Vor 15 Jahren hat Hess das Drehbuch für den ARDZweitei­ler „Die Frau vom Checkpoint Charlie“geschriebe­n. Die Mutter, die darin um ihre Kinder kämpfte, durfte laut der Drehbuchau­torin noch keine abgründige­n Seiten haben, musste unfehlbar sein. Zu der Zeit seien eindimensi­onale Frauenchar­aktere noch nachgefrag­t gewesen. „Vielleicht mussten sie das sein, damit man die Charaktere wieder brechen konnte“, überlegt Annette Hess.

Dann wurden die Charaktere immer vielschich­tiger – die 54-Jährige erinnert sich zum Beispiel noch daran, als eine Dortmunder TatortKomm­issarin zum ersten Mal zu einem Callboy ging: „Langsam träufelt das in die Figuren hinein, dass sie menschlich sein dürfen.“Dabei schaffe das Angebot die Nachfrage, aber auch umgekehrt. So vermittle das Fernsehen einerseits erst diese Ideen, anderersei­ts fordere das Publikum jedoch auch progressiv­ere Charaktere.

 ?? Foto: picture alliance/dpa/Hulu/MGM/Ma ?? Für ihre Rolle als June in der Serie „Handmaid’s Tale“wurde die Schauspiel­erin Elisabeth Moss schon mehrfach ausgezeich­net. Ihre Figur prägt einen neuen Typ von Frau‰ enfigur, eine Serienheld­in, um die herum Männer als Charaktere nur noch eine unterstütz­ende Rolle haben.
Foto: picture alliance/dpa/Hulu/MGM/Ma Für ihre Rolle als June in der Serie „Handmaid’s Tale“wurde die Schauspiel­erin Elisabeth Moss schon mehrfach ausgezeich­net. Ihre Figur prägt einen neuen Typ von Frau‰ enfigur, eine Serienheld­in, um die herum Männer als Charaktere nur noch eine unterstütz­ende Rolle haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany