Augsburger Allgemeine (Land West)
Begegnung mit Beuys – menschlich, greifbar, engagiert
Ausstellung Zu seinem 100. Geburtstag rückt das Museum Ulm den Mann mit Hut in ein persönliches und politisches Licht
Ulm Schamane mit Hut, Visionär im Anglerjäckchen – das Bild von Joseph Beuys ist im kollektiven Gedächtnis wie in Stein gemeißelt. Aber Beuys war und ist mehr als der Exzentriker, so viel mehr als seine Erscheinung – Beuys Kunst ist Wachs, Honig, Filz, sie erzählt von Liebe zur Natur und zu den Menschen. 1921 wurde der Künstler geboren. Das Jahrhundert mit Beuys würdigt das Museum Ulm jetzt mit einer Ausstellung. Sie macht die Kunstfigur und ihr Werk – greifbar. Politisch, menschlich, jenseits des Mythos.
Was verbindet den Mann aus Kleve mit dem deutschen Süden? Und was macht ihn bis heute so politisch? Mehr als 300 Seiten umfasst das Buch zur Ausstellung. Darin berichten Zeitzeugen wie die Assistentin des Künstlers oder auch Grüne der ersten Stunde – schließlich zählt Beuys zu den Gründungsmitgliedern dieser Partei. Auch die Ausstellung lässt diese Menschen sprechen: In Filmen erklären Wegbegleiter, wie Beuys ihr Leben berührt hat – und jedes einzelne hat er ein Stück verrückt und verändert. Zum Beispiel Rainer Rappmanns Lebensweg. Er öffnet sein persönliches Archiv für die Schau.
Mitten im Herz der Ausstellung steht Rappmanns Archivregal mit Tonkassetten, Zeitungsartikeln, Briefen von und über Beuys, die er gesammelt, sortiert, selbst aufgezeichnet hat. Hier wird spürbar: Beuys lebte von Sprache, das Wort war sein Draht zur Welt, die er verbessern wollte, nimmermüde. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto scharen sich Menschen wie Jünger um Beuys – eine Szene, die Rappmann im baden-württembergischen Achberg aufgeschnappt hat. Hier, im Internationalen Kulturzentrum, entwickelten Beuys und Gleichgesinnte Impulse für eine ökologische Wende, neue Philosophie – ein „Woodstock der Ideen“. Beuys trieb die Idee an, dass jeder Mensch Künstler sei, er forderte freie Universitäten und direkte Demokratie. Eine Galerie von Wahlplakaten hängt im Museum, bunte Motive, die Beuys für die Grünen entworfen hat. „Sei kein Frosch!“, wirbt ein Plakat mit Unke für die Europawahl. Der Idealist Beuys fand in dieser Partei Menschen, die seine Prinzipien teilten. Doch vom Ideal der direkten Demokratie sind „seine“Grünen heute etwas abgerückt.
Zeitungsartikel berichten von einem Vortrag, den Beuys in Ulm hielt. Thema: Was ist Geld? Denn er hinterfragte dieses „Werte“-System, und den Kapitalismus. Und so führt die Spur in den Süden: Ein Anzug aus Filz hängt in der Schau, doch der war nie zum Tragen gedacht. Für Beuys war der Anzug eine Hülle, die den Menschen isoliert, verpackt. Den Filz dafür bezog er aus Giengen an der Brenz. Und ein Pumpeningenieur aus Wangen baute ihm eine ausgefuchste Maschine, die zentnerweise Honig beförderte. Auch diese Geschichte erzählt die Ausstellung.
Beuys „Multiples“, Objekt-Werke aus Holz, Wachs und Fett, dürfen hier nicht fehlen: Ein Holzschlitten, gepackt in Rollen von Filz – erzählt von einem Mythos. Als Beuys im Weltkrieg verunglückte, mit dem Flugzeug abstürzte, hätten ihn Krimtataren gesund gepflegt. Eine Legende, heute so gut wie widerlegt. Aber die Legende Beuys lebt hundert Jahre nach seiner Geburt weiter.
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Ausstellung „Ein Woodstock der Ideen“, bis 4. Juli im Museum Ulm.