Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Magie der Flüstervid­eos

Justin ist 15, kommt aus der Region und ist Teil des weltweiten Phänomens ASMR

- / Von Lea Thies

Als seine Eltern zum ersten Mal so ein Video sahen, blickten sie sich an, lachten und sagten: „Ist das schräg!“Da saß also jemand nah vor der Kamera, flüsterte in ein Mikrofon, machte leise Geräusche mit Gegenständ­en – und dieser vollkommen unspektaku­läre, ja fast schon langweilig­e Film wurde tausendfac­h geklickt? Das war vor rund zwei Jahren. Inzwischen ist Justin Meier, 15, aus der Nähe von Augsburg Teil dieses weltweiten Flüstervid­eo-Phänomens namens ASMR. „Schräg, nicht wahr?“, wiederholt Vater Jörg nun am Esstisch der Familie und lächelt erst seinen Gast und dann seinen Sohn an. Seine Frau Annick serviert gerade eine selbst gebackene Torte – willkommen im Backstage-Bereich von „ASMR Justin“.

Eigentlich beginnt diese Geschichte aber viel früher. Da war Justin noch gar nicht geboren. Die Amerikaner­in Jennifer Allen bemerkte vor vielen Jahren, dass sie manchmal ein komisches, aber wohltuende­s Gefühl verspürt, wenn sie etwa Weltraumvi­deos ansah. Eine Art Hirnkribbe­ln. Sie wusste nicht, was das auslöste. Ungefähr neun Jahre suchte sie im Internet eine Antwort, indem sie immer wieder die Google-Suchmaschi­ne mit den Stichwörte­rn „prickelnde­r Kopf und Wirbelsäul­e“oder „Gehirnorga­smus“fütterte. Nix. Erst 2009 gab es einen Treffer. Sie fand einen Beitrag, der die Überschrif­t „WEIRD SENSATION FEELS GOOD“trug und wusste: Sie ist mit diesem „komischen, sich gut anfühlende­n Gefühl“nicht mehr allein, es handelt sich um ein Phänomen ohne Namen. Sie las von Menschen, bei denen das Kribbeln seit der Kindheit auftaucht, wenn sie die sanfte Stimme von Kult-Künstler Bob Ross hören oder das Geräusch beim Haarekämme­n oder -schneiden. Sie las von Menschen, die Angst vor Stigmatisi­erung hatten, weil sie durch dieses komische Kribbeln als irre oder pervers abgestempe­lt werden könnten. Das brachte Jennifer Allen auf die Idee, dem Phänomen einen klinisch-nüchternen Namen zu geben: „Autonomous Sensory Meridian Response“, übersetzt: Autonome sensorisch­e Meridianre­aktion. Kurz: ASMR. Wer die Abkürzung heute bei Google eingibt, erhält 285 Millionen Treffer in 0,82 Sekunden.

Einige davon führen auch zu einem Rechner im Großraum Augsburg, vor dem regelmäßig Justin sitzt und vor einem grünen Hintergrun­d neue Youtube-Videos dreht. Über seinen großen Bruder kam der sympathisc­he Teenager auf ASMR. „Er zeigte mir eines der Videos, die er zum Einschlafe­n benutzte, und das probierte ich dann auch aus“, erklärt Justin. Erst waren die Flüstervid­eos auch für ihn eine Einschlafu­nd Entspannun­gshilfe, ab und zu spürte er auch das Kopfkribbe­ln, ein „Tingle“. Dann wechselte er die Bildschirm­seite: Mit dem Handy nahm er sein erstes ASMRVideo auf. Dann sein zweites. Learning by whispering. Er stellte die Videos online, das Feedback wurde immer größer, die Ausrüstung immer besser. Inzwischen hat „ASMR Justin“13300 Abonnenten auf seinem Youtube-Kanal, seine Videos wurden insgesamt schon 1,1 Million Mal gesehen. In Deutschlan­d gehöre er zu den mittelgroß­en ASMRKünstl­ern, in deren Beiträgen auch Werbung läuft. Damit bessert er ein bisschen sein Taschengel­d auf. „Ich trage aber trotzdem weiter Zeitungen aus“, sagt er. Für manch Youtube-Star mag das vielleicht jetzt schräg klingen.

Nach dem Torte-Essen klappt Justin seinen Rechner auf und zeigt seine Youtube-Statistik. Seit Dezember ist auf seinem Kanal viel mehr los. Sind die Menschen im zweiten Lockdown etwa gestresste­r? Suchen sie mehr Entspannun­g? „Das weiß ich nicht“, sagt Justin, „aber im zweiten Lockdown habe ich auch mehr Videos veröffentl­icht.“Jetzt füttere er mit neuen Filmen den Algorithmu­s weiter, der seine Videos an immer mehr Menschen ausspielt – die meisten im deutschspr­achigen Raum, aber auch aus den USA, Italien und Asien kommen die Nutzer vorbei. In den USA ist ASMR schon seit einiger Zeit ein Trend, englischsp­rachige Videos werden millionenf­ach geklickt. Hollywood-Stars wie Gal Gadot, Kate Hudson oder Margot

Robbie geben sogar ASMR-Interviews.

Auch Justin schaut sich lieber englisch geflüstert­es ASMR an, zum Beispiel von „ASMR Zeitgeist“, der besonders spannende „Trigger“(Auslöser) verwende oder auch interessan­te ASMR-Rollenspie­le zeige. Das Angebot an Flüstervid­eos im Netz sei inzwischen so groß, dass es nicht mehr so einfach sei, eine Nische zu finden, sagt Justin. Ganz genau kann er sich seinen Erfolg nicht erklären. Sein Aussehen? Justin zuckt mit den Schultern, Vater Jörg nickt. Inszwische­n gehören er und seine Frau auch zu Justins ASMRCrew, denn sie finden, dass ihr Sohn bei diesem Youtube-Experiment auch viel fürs Leben lernt: Annick schaut also beim Einkaufen stets nach neuen geräuscher­zeugenden Gegenständ­en, die Justin dann in seinen Videos in Szene setzen kann. Küchenschw­ämme, Sprühflasc­hen – alles ist verwertbar. Sein Vater passt auf, dass in Live-Streams niemand Beleidigen­des schreibt.

Im Großen und Ganzen geht es in der ASMR-Welt aber recht entspannt und freundlich zu. Eine nette Nische im ansonsten rauen Internet. Wenn Justin einen Live-Stream sendet, begrüßt er viele seiner Zuschauer aufmerksam lächelnd, flüsternd natürlich, beantworte­t Fragen, macht dazwischen Geräusche mit Gegenständ­en, Fingern oder seinem Mund. Über eine Stunde lang geht das so – und wenn ein Zuschauer einschläft, ist das Maximal-Lob. kichernd

„Die Leute freuen sich, dass ich ihnen beim Entspannen helfe“, sagt Justin, „dass ich helfen kann, ist ein schönes Gefühl.“

Da kümmert sich jemand gut um mich – das ist ein wichtiger Aspekt bei ASMR. In den Videos wird Nähe und Vertrauthe­it suggeriert. Laut Professor Craig Richard, der die Webseite asmruniver­sity.com gegründet hat, ein Kribbeln bei Sehtests bekommt und seit Jahren auch wissenscha­ftlich mit Tingles und Triggers befasst, sind beim Anblick dieser Filme dieselben Hirnregion­en aktiv wie wenn ein Mensch positive Aufmerksam­keit eines freundlich­en, kümmernden Gegenübers bekommt. Psychologi­n Giulia Poerio hat in einer Studie an der University of Sheffield herausgefu­nden, dass sich Menschen durch ASMR wirklich physisch und psychisch entspannen können. Der Herzschlag verlangsam­e sich um 3,14 Schläge pro Minute. Welche Gehirnchem­ie genau ASMR auslöst und warum nicht alle Menschen dieses Kribbeln angesichts der Videos bekommen, ist noch nicht erforscht. Professor Richard vermutet, dass das Liebeshorm­on Oxytocin und die Gene eine wichtige Rolle spielen.

Aber das Kribbeln sei ihm eigentlich egal, auch die Klicks, sagt Justin. Er möge ASMR einfach als entspannte­s Hobby. Nicht mehr? Justin lacht und sagt dann, ganz bodenständ­ig, ja, unschräg: „Mal sehen. Auf jeden Fall möchte ich nach der Schule eine Büro-Lehre machen.“

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Foto: Lea Thies
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Fotos ASMR Justin, Gentle Whispering ASMR Autonomous Sensory Meridian Response ist ein welt‰ weites Phänomen, das laut Guilia Poerio in den vergan‰ genen Jahren durch das Internet stärkere Aufmerksam‰ keit bekommen hat. Eine Umfrage unter über 30 000 Studientei­lnehmern ergab, dass ASMR‰Erfahrunge­n in über 130 Ländern gemacht werden. Manches Video, wie etwa von „Gentle Whispering ASMR“, wird millionen‰ fach geklickt.
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