Augsburger Allgemeine (Land West)
Verhängnisvoller Irrtum im Flockenwirbel
Nationaltheater Geschickt erzählt und expressiv vertanzt wird Puschkins „Der Schneesturm“zum vielschichtigen Ballett
München Familienporträts offenbaren oft viel mehr, als sie vordergründig abzubilden versuchen. Das Bild von der heilen Welt gerät mitunter ins Wanken, wenn man den Blick der Protagonisten oder die abgekehrte Schulter eines Familienmitglieds ins Visier nimmt. So ist es auch mit dieser Familie, um die sich die Geschichte von „Der Schneesturm“, dem neuen Ballettabend am Bayerischen Nationaltheater, rankt. Dessen Uraufführung fand am Samstag pandemiebedingt im Livestream statt.
Vater, Mutter und Gesinde versuchen Haltung zu bewahren, während Töchterchen Marja (die darstellerisch und tänzerisch glänzende Ksenia Ryzhkova) aus der Reihe tanzt und mit einer Schneekugel herumhampelt. Die 17-Jährige aus gutem Hause hat sich in den Bauernjungen Vladimir (Jona Cook) verliebt und plant die heimliche Hochzeit. Nachts in einer einsamen Kapelle soll sie stattfinden, doch ein Schneesturm vereitelt den Plan. Vladimir erscheint zu spät und muss eine fürchterliche Entdeckung machen. Aus Enttäuschung schließt er sich der Armee an und fällt im Krieg gegen Napoleon. Vier Jahre später verliebt sich Marja in den Husaren Burmin (Jinhao Zhang) und erkennt, dass er es war, den sie irrtümlich in jener stürmischen Schneenacht geheiratet hat.
Leitmotivisch setzt Choreograf Andrey Kaydanovskiy das immer mehr zerfallende Familienmotiv vor den Beginn der Szenen des ersten Aktes und beweist damit dramaturgisches Geschick. Wie es ihm überhaupt gelingt, die erzählerische Raffinesse aus Alexander Puschkins gleichnamiger Novelle und ihre Mixtur aus Groteske, Ironie, Dramatik und Romantik in sein Handlungsballett zu übertragen. Auch choreografisch glückt dies in einem durchgehend zeitgenössischen Tanzstil, der mehr auf akrobatische Elemente und Bewegung am Boden setzt als auf klassische Hebefiguren. Den Schneesturm inszeniert er als expressiven Kampf Vladimirs mit wild wirbelnden Konfetti-Flocken und weiß verhüllten Männern. Noch eindringlicher sind die Albträume Marjas in der Nacht vor der Hochzeit, wenn Hausmädchen und Knecht, Vater und Mutter hinter einem Vorhang zu Nosferatu-ähnlichen Schreckgestalten werden.
Kongenial findet sich zum Tanz die Musik von Lorenz Dangel – ein vielgestaltiger Klangteppich, der Figuren und Szenerie charakterisiert, der Barockelemente ebenso zitiert wie die filmmusikalische Anmutung und zu Cembalo und Bandoneon auch Soundschnipsel wie Glockengeläut und das Brausen der Windmaschinen auffährt. Dass dies in enger Abstimmung mit dem Choreografen entstanden ist, macht die Aufführung so zu einem faszinierenden Gesamtbild. Dahinein fügen sich die Bühne (Karoline Hogl) mit den einfachen Leuchtumrissen für Gutshof und Kapelle und die Kostüme (Arthur Arbesser) mit knallbuntem Tüll und extravagantem Mustermix. So gelingt ein munterer und vielschichtiger Ballettabend, denn ob das Glück am Ende nicht trügt – wer weiß! Der nächste Schneesturm kündigt sich bereits an.
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„Der Schneesturm“ab 23. April 30 Tage für 9,90 Euro; Highlights des Re pertoires diese Woche kostenfrei; www.staatstheater.tv