Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein Gesetz mit langem Bremsweg
Pandemie Heftig hat die Politik mit sich gerungen, nun ist die Corona-Notbremse beschlossene Sache. Mediziner setzen große Hoffnungen in das Instrument. Doch ob es ausreicht, um die Zahlen zu senken, wird sich erst noch zeigen
Berlin Am Anfang war die Kurve noch flach. Mittlerweile steigt sie zumindest etwas steiler an – es ist so etwas wie die Linie der Hoffnung, an deren Ende die Normalität zurückkehren soll nach Deutschland. Politiker freuen sich über die neuen Impf-Tagesrekorde, am Dienstag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI), dass 20,2 Prozent der etwa 83 Millionen Menschen mindestens eine Dosis bekommen haben – Tendenz steigend. Noch immer liegt Deutschland mit diesen Zahlen zwar weit zurück hinter vielen anderen Ländern. Doch selbst Skeptiker wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach verbreiten mit Blick auf die Zahlen so etwas wie Zuversicht. Und mahnen zugleich, die Zeit bis dahin nicht zu verspielen. Auf Twitter veröffentlichte der Politiker dieser Tage eine Grafik aus Israel mit blauen, gelben und grünen Kurven. Sie zeigt: Sobald die Impfquote einen Wert von gut 50 Prozent überschreitet, sinkt die Zahl der CoronaNeuinfektionen deutlich. Das Beispiel des Corona-Musterschülers aus Nahost, hofft Karl Lauterbach, könne zeigen, was vor uns liege. „Das erreichen wir Ende Mai. Es fehlen also noch sechs Wochen“, schreibt er. Wochen, in denen durch einen Lockdown Menschenleben gerettet werden müssten.
Ein Schritt in diese Richtung scheint getan: In einer turbulenten Sitzung beschloss am Mittwoch der Bundestag die einheitliche Notbremse. Sie soll bundesweit verbindliche Regeln für schärfere Corona-Gegenmaßnahmen festlegen – mit konkreten Vorgaben bei hohen Infektionszahlen. Dazu gehören weitgehende Ausgangsbeschränkungen von 22 Uhr bis 5 Uhr, Schulschließungen und strengere Bestimmungen für Geschäfte. Gezogen werden soll die Notbremse, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt. Fürs Umschalten auf Fernunterricht in Schulen soll ein Wert von 165 gelten. Das Infektionsgeschehen an Schulen gilt vielerorts als bedenklich. Gesundheitsminister Jens Spahn sagt: „Bei den 6- bis 20-Jährigen sehen wir gerade sehr, sehr viele Infektionen.“Die Regelungen sollen bis Ende Juni gelten. Die Regierung hatte das Gesetz auf den Weg gebracht, nachdem die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zur Pandemiebekämpfung in den Bundesländern teils unterschiedlich umgesetzt wurden.
Unterstützung erhält die Politik von Medizinern. „Aus internationaler Sicht waren vor allem die Staaten in der Abwehr der Pandemie erfolgreich, die konsequent und einheitlich großflächige Maßnahmen der Kontakteinschränkungen durchgesetzt und durchgehalten haben“, sagt Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Welt-Ärztebunds. „Daran können wir uns ein Beispiel nehmen und dies tut das Infektionsschutzgesetz.“Auch die darin festgeschriebenen Grenzwerte nimmt der Experte in Schutz. „Natürlich kann man jeden Grenzwert streitig diskutieren, kann jede Maßnahme hinterfragen und manche Regelungen sind auch eher Ergebnis eines politischen Kuhhandels als wissenschaftlicher Beratung“, sagt Montgomery. „Aber es ist richtig und gut jetzt einheitlich, konsequent und kraftvoll handeln zu wollen.“Das Gesetz beruhe auf den weltweiten Erfahrungen im Umgang mit der Pandemie. Doch reicht das aus?
In Bayern sind nur noch zwei Landkreise überhaupt unter der 100er Marke: Kitzingen und (ausgerechnet) Tirschenreuth, das lange
Corona-Hotspot war. Im ganzen Freistaat hingegen bleiben die Inzidenzzahlen auf hohem Niveau – und das, obwohl die meisten Regeln der Bundesnotbremse ohnehin schon umgesetzt werden. Nächtliche Ausgangssperren überall dort, wo die Inzidenzwerte die 100 überschreiten, Kontaktbeschränkungen, Regeln für den Einzelhandel – trotzdem bleibt die Situation angespannt. Auch deshalb will Bayern die bundeseinheitlichen Regelungen nur als Maßstab nehmen und einen eigenen, strikteren Kurs fahren. Das betrifft vor allem die Schulen. Nach der Bundesnotbremse sollen die ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 verpflichtend auf Distanzunterricht umstellen. In Bayern hingegen gibt es den derzeit für die meisten Klassen bereits ab 100 Neuinfektionen je 100000 Einwohner binnen einer Woche. Ausgenommen sind nur die Abschlussklassen an Grund- und weiterführenden Schulen sowie die elfte Jahrgangsstufe.
Als Begründung für die strengeren Vorgaben verweist auch die Münchner Staatskanzlei auf die hohen Inzidenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen. Tatsächlich sind die 15- bis 19-Jährigen inzwischen die am stärksten von Corona-Neuinfektionen betroffene Altersgruppe in Bayern. Die Zahl der Ansteckungen pro 100 000 Einwohner in dieser Altersgruppe liegt bei mehr als 320, bei den 10- bis 14-Jährigen noch immer bei gut 240. Insgesamt liegt der Durchschnitt in Bayern derzeit bei 185. „Aufgrund der Mutationen hat das Infektionsgeschehen in den letzten Wochen noch mal zugenommen, auch bei uns“, sagt Gesundheitsminister Klaus Holetschek. Deshalb würden da, wo strengere Regeln als im Bund gelten, dies auch beibehalten. Der Freistaat bleibe bei seinem Kurs „Umsicht und Vorsicht“. „Dieses Leitmotiv sollten übrigens auch jene beachten, denen Maßnahmen zum Schutz der Menschen derzeit zu pauschal und zu radikal sind“, sagt Holetschek. „Volle Intensivstationen vertragen sich nun mal nicht mit vollen Biergärten.“Die Zahlen müssten zurück in den kontrollierbaren Bereich kommen.
Das Nachbar-Bundesland BadenWürttemberg geht hingegen noch weiter als Bayern. Einzelhändler dürften schon ab einer Inzidenz von 100 auch keine Abholangebote (Click & Collect) mehr anbieten, es sind nur noch Lieferdienste zulässig.
Friseure und Barbershops dürfen ihre Kunden bei hohen Inzidenzen nur noch mit einem negativen Schnelltest bedienen. Auch die nächtliche Ausgangssperre für Hotspots greift in Baden-Württemberg schon um 21 Uhr, während Bayern und der Bund sie auf 22 Uhr festgesetzt haben.
Rechtliche Probleme, die Corona-Maßnahmen strenger zu fassen als der Bund, gibt es nicht. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte die Bundesländer ausdrücklich dazu ermuntert. „Wenn wir Leid vermeiden können, sollten wir es vermeiden“, sagt er. Die Zahl der Geimpften wachse zwar zügig. Aber: „Impfen und Testen alleine reicht nicht, um die dritte Welle zu brechen.“
Zumindest der rasche Anstieg scheint abgeflacht, die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz hat sich in den vergangen Tagen nur noch wenig geändert. „Mit aller Vorsicht sprechen die Daten der vergangenen Tage aus meiner Sicht für eine gewisse Stabilisierung auf hohem Niveau“, sagt Hajo Zeeb vom LeibnizInstitut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen mit Blick auf die Gesamtwerte. „Es ist sicher zu früh, da schon von einer Trendumkehr zu sprechen.“
Vor diesem Schluss warnen auch die Intensivmediziner. „Wir behandeln täglich mehr Patienten mit Covid-19“, sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Es gebe große regionale Unterschiede, vor allem die Kliniken in den Ballungsgebieten Nordrhein-Westfalens seien stark belastet. Mehr Kapazitäten gebe es in Schleswig-Holstein. Was hingegen überall gleich sei: „Die Teams sind wirklich müde und erschöpft“, sagt Marx. Das Personal bestehe aus Menschen, nicht aus Maschinen. „Deshalb schauen wir mit großer Erwartung nach Berlin“, sagt der Divi-Chef. „Wir brauchen den Rückhalt der Politik, damit wir den Anstieg anhalten und hoffentlich bald zu einer neuen Normalität zurückkehren können.“
Die neuen Regelungen könnten frühestens ab Samstag greifen. Bevor das geschehen kann, müssen sie am Donnerstag den Bundesrat passieren. Zudem muss Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz unterzeichnen. Es ist offen, ob das am Donnerstag geschieht, weil das Gesetz – wie jedes andere auch – im Präsidialamt erst geprüft wird. Die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt könnte möglicherweise noch am selben Tag wie die Unterzeichnung erfolgen.