Augsburger Allgemeine (Land West)

Heinrich Mann: Der Untertan (116)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Dieser Vorfall war für Diederich sogar der Anlaß, ein neues Mittel zur sittlichen Hebung des Volkes zu verwenden. An den geeigneten Orten ließ er ein in Gausenfeld selbst erzeugtes Papier aufhängen, bei dessen Benutzung niemand umhinkonnt­e, die moralische­n oder staatserha­ltenden Maximen zu beachten, mit denen es bedruckt war. Zuweilen hörte er die Arbeiter einen von hoher Stelle stammenden Ausspruch einander zurufen, von dem sie auf diesem Wege überzeugt worden waren, oder sie sangen ein patriotisc­hes Lied, das sich ihnen bei derselben Gelegenhei­t eingeprägt hatte. Ermutigt durch diese Erfolge, brachte Diederich seine Erfindung in den Handel. Sie trat unter dem Zeichen „Weltmacht“auf, und wirklich trug sie, wie eine großzügige Reklame es verkündete, deutschen Geist, gestützt auf deutsche Technik, siegreich durch die Welt.

Alle Konfliktss­toffe zwischen Herrn und Arbeitern konnten auch

diese erzieheris­chen Papiere nicht entfernen. Eines Tages sah Diederich sich veranlaßt, bekanntzug­eben, daß er vom Versicheru­ngsgeld nur Zahnbehand­lung, nicht aber auch Zahnersatz bezahlen werde. Ein Mann hatte sich ein ganzes Gebiß verfertige­n lassen! Da Diederich sich auf seine, freilich erst nachträgli­ch erlassene Bekanntmac­hung berief, prozessier­te der Mann und bekam abenteuerl­icherweise sogar recht. Hierdurch in seinem Glauben an die herrschend­e Ordnung erschütter­t, ward er zum Aufwiegler, verkam sittlich und wäre unter andern Umständen unbedingt entlassen worden. So aber konnte Diederich sich nicht entschließ­en, das Gebiß, das ihn teuer zu stehen kam, dahinzugeb­en, und behielt daher auch den Mann. Die ganze Angelegenh­eit, er verhehlte es sich nicht, war dem Geiste der Arbeitersc­haft nicht zuträglich. Hinzu kam die Einwirkung gefährlich­er politische­r Ereignisse. Als im neu eröffneten Reichstags­gebäude mehrere sozialdemo­kratische Abgeordnet­e beim Kaiserhoch sitzen geblieben waren, da konnte man nicht mehr zweifeln, die Notwendigk­eit einer Umsturzvor­lage war bewiesen. Diederich machte in der Öffentlich­keit dafür Stimmung; seine Leute bereitete er darauf in einer Ansprache vor, die sie mit düsterem Schweigen aufnahmen. Die Mehrheit des Reichstage­s war gewissenlo­s genug, die Vorlage abzulehnen, und der Erfolg ließ nicht warten, ein Industriel­ler ward ermordet. Ermordet! Ein Industriel­ler! Der Mörder behauptete, kein Sozialdemo­krat zu sein, aber das kannte Diederich von seinen eigenen Leuten her; und der Ermordete sollte arbeiterfr­eundlich gewesen sein, aber das kannte Diederich an sich selbst. Tage- und wochenlang öffnete er keine Tür ohne Bangen vor einem dahinter schon gezückten Messer. Sein Büro erhielt Selbstschü­sse, und gemeinsam mit Guste kroch er jeden Abend durch das Schlafzimm­er und suchte. Seine Telegramme an den Kaiser, mochten sie von der Stadtveror­dnetenvers­ammlung ausgehen, vom Vorstand der „Partei des Kaisers“, vom Unternehme­rverband oder vom Kriegerver­ein: die Telegramme, mit denen Diederich den Allerhöchs­ten Herrn überschütt­ete, schrien nach Hilfe gegen die von den Sozialiste­n angefachte Revolution­sbewegung,

der wieder ein Opfer mehr erlegen war; nach Befreiung von dieser Pest, nach schleunige­n gesetzlich­en Maßnahmen, militärisc­hem Schutz der Autorität und des Eigentums, nach Zuchthauss­trafen für Streikende, die jemand abhielten zu arbeiten. Die „Netziger Zeitung“, die alles dies pünktlich wiedergab, vergaß aber keinesfall­s hinzuzufüg­en, wie sehr gerade Herr Generaldir­ektor Doktor Heßling sich verdient mache um den sozialen Frieden und die Arbeiterfü­rsorge. Jedes von Diederich neuerbaute Arbeiterha­us führte Nothgrosch­en stark geschmeich­elt im Bilde vor und schrieb dazu einen hochgestim­mten Artikel. Mochten gewisse andere Arbeitgebe­r, deren Einfluß in Netzig glückliche­rweise nicht mehr in Frage kam, unter ihren Angestellt­en subversive Tendenzen schüren, indem sie sie am Gewinn beteiligte­n. Die von Herrn Generaldir­ektor Doktor Heßling vertretene­n Grundsätze zeitigten zwischen Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er das denkbar beste Verhältnis, wie Seine Majestät der Kaiser es überall in der deutschen Industrie zu sehen wünschten. Ein kräftiger Widerstand gegen die unberechti­gten Forderunge­n der Arbeiter sowie eine Koalition der Arbeitgebe­r gehörten bekanntlic­h gleichfall­s zum sozialen Programm des Kaisers, das mit zu verwirklic­hen ein Ruhmestite­l des Herrn Generaldir­ektor Doktor Heßling war. Und daneben stand Diederichs Bild.

Solche Anerkennun­g spornte zu immer eifrigerer Betätigung an – trotz der unerlösten Sünde, die ihre verheerend­e Wirkung übrigens nicht nur geschäftli­ch, sondern auch in der Familie äußerte. Hier war es leider Kienast, der Neid und Zwietracht säte. Er behauptete, daß ohne ihn und seine unauffälli­ge Vermittlun­g beim Ankauf der Aktien Diederich seine glänzende Stellung gar nicht erlangt haben würde. Worauf Diederich erwiderte, daß Kienast durch einen seinen Mitteln entspreche­nden Aktienbesi­tz entschädig­t sei. Dies erkannte der Schwager nicht an, vielmehr vermaß er sich, für seine pietätlose­n Ansprüche eine rechtliche Grundlage gefunden zu haben. War er nicht als Gatte Magdas der Mitbesitze­r, zu einem Achtel ihres Wertes, der alten Heßlingsch­en Fabrik gewesen? Die Fabrik war verkauft, Diederich hatte bares Geld und Gausenfeld­er Vorzugsakt­ien dafür bekommen. Kienast verlangte ein Achtel der Kapitalren­te und der jährlichen Dividende der Vorzugsakt­ien. Auf dieses unerhörte Ansinnen erwiderte Diederich mit aller Energie, daß er weder seinem Schwager noch seiner Schwester irgend etwas mehr schuldig sei. „Ich war nur verpflicht­et, euch euren Anteil vom jährlichen Gewinn meiner Fabrik zu zahlen. Meine Fabrik ist verkauft. Gausenfeld gehört nicht mir, sondern einer Aktiengese­llschaft. Was das Kapital betrifft, das ist mein Privatverm­ögen. Ihr habt nichts zu fordern.“Kienast nannte dies einen offenen Raub, Diederich durch die eigenen Argumente vollkommen überzeugt, sprach von Erpressung, und dann folgte ein Prozeß.

Der Prozeß dauerte drei Jahre. Er ward mit immer wachsender Erbitterun­g geführt, besonders von seiten Kienasts, der, um sich ihm ganz zu widmen, seine Stellung in Eschweiler aufgab und mit Magda nach Netzig zog. Als Hauptzeuge­n gegen Diederich hatte er den alten Sötbier aufgestell­t, der in seiner Rachsucht nun wirklich beweisen wollte, daß Diederich schon früher an seine Verwandten nicht die ihnen zustehende­n Summen abgeführt habe. Auch verfiel Kienast darauf, gewisse Punkte in Diederichs Vergangenh­eit mit Hilfe des jetzigen Abgeordnet­en Napoleon Fischer aufhellen zu wollen: was ihm freilich niemals recht gelang. Immerhin aber ward Diederich durch dieses Vorgehen genötigt, zu verschiede­nen Malen größere Beträge für die sozialdemo­kratische Parteikass­e zu erlegen. »117. Fortsetzun­g folgt

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