Augsburger Allgemeine (Land West)
„Der Sport ist eben ein riesiges Geschäft“
Interview Der Doping-Experte Fritz Sörgel über die Risiken, die Olympischen Spiele ohne Zuschauer in Zeiten der Pandemie durchzuziehen, die Nöte des IOC und eine mögliche Flut an Weltrekorden
War es richtig, dass in Japan keine Zuschauer zugelassen sein werden? Fritz Sörgel: Diskutieren wir es, als ob es beim Zuschauerausschluss bliebe, da bin ich mir aber nicht sicher. Bach wird alles tun, auch wenn die Spiele schon begonnen haben, die Zuschauer ins Stadion zu bringen. Er will der Held für die Sportler sein, der ihnen den Beifall schenkte. Ich darf mir erlauben, darauf hinzuweisen, dass ich schon im vergangenen Jahr gesagt habe: Das einzig Vorstellbare ist eine Ansammlung von örtlich und zeitlich ausreichend getrennten Geister-Wettbewerben. Man hat sich aber entschieden, bis zur allerletzten Minute auf eine Besserung der Infektionslage im Sommer zu warten, bis es keinen echten Plan B oder C mehr gibt. Wenn man diese Spiele überhaupt verantworten kann, dann nur in dieser Form. Denn man muss auch bedenken, dass die Japaner noch nicht so durchgeimpft sind wie wir in Deutschland zum Beispiel.
Bei der Fußball-Europameisterschaft dagegen waren die Zuschauerränge voll. In Wembley lagen sich tausende Menschen glückselig in den Armen. Wie passt das zusammen?
Sörgel: Momentan wissen wir einfach noch nicht, was bei der EM passiert ist. Diese Zahl von 2000 Ansteckungen von schottischen Fans in England sehe ich kritisch, weil ich mir nicht sicher bin, wie das erfasst wurde. Fest steht, dass die Inzidenzzahlen in England dramatisch zunehmen, schuld sei daran nur die Delta-Mutation. Die Hauptfrage ist, ob unter den Zuschauern eventuell ein Superspreader war. Die fehlenden Auswertungen waren ein Problem für das IOC, wenn dort nachweislich alles gut gegangen wäre und bei den Festivals in Holland nichts passiert wäre, hätte man die Zuschauer in Tokio vielleicht nicht ausgeschlossen. Sorgen machen die Berichte aus Holland aber trotzdem, dass bei einem Festival 1000 Infektionen auftraten, obwohl alle entweder genesen, geimpft oder den Schnelltest gemacht haben. Die in Hamburg berichtete Fehlerhaftigkeit der Schnelltests macht auch für Tokio große Sorgen, denn da werden diese Speichelgurgeltests verwendet, die doch nicht wirklich gut funktionieren.
Trotzdem bleibt die Tatsache, dass tausende Sportler, Betreuer, Funktionäre und Journalisten aus der ganzen Welt nach Tokio reisen. Ist es möglich, das Einschleppen des Virus zum Beispiel in das Olympische Dorf zu verhindern?
Sörgel: Das ist praktisch unmöglich. Da müssten sie ja hinter jeden Besucher einen Japaner stellen, der denjenigen überwacht. Ob man gleiche
Effekte durch die Apps erreichen kann, bleibt offen, vor allem kann man bei Verstößen nicht sofort eingreifen. Man sieht ja, dass es immer irgendwann eine gewisse Disziplinlosigkeit gibt. Dass wir nicht ganz ohne Fälle durchkommen werden, ist klar. Aber welche Mutanten werden es sein und wie unberechenbar werden sie sein? Dafür sind die Spiele einfach zu groß und zu komplex.
Man kann also nur hoffen, dass nichts passiert?
Sörgel: Ja, so ist es. Wenn was passiert, dann kann es verheerend sein. Infizierte Sportler entdeckt man ja unter Umständen nicht sofort, während sie noch in Tokio sind. Das ginge ja noch. Man könnte sie in Tokio in einem Hotelzimmer in Quarantäne setzen. Aber wenn die mit dem unentdeckten Virus nach Hause zurückfliegen und haben das Virus dabei – dann ist das bei 200 Ländern schon komplex. Denn viele Länder haben nicht das entsprechende System, um die Mutanten zu erfassen. Das haben wir in Deutschland ja auch viel zu spät gemacht.
Es war zuletzt zu lesen, dass unter denen, die zu den Spielen reisen, eine Impfquote von rund 80 Prozent erreicht sein wird. Gibt das nicht ein Stück weit Sicherheit?
Sörgel: Wenn das so stimmt, dann ist das eine gute Quote. Es ist aber wie in der Diskussion in unserer Gesellschaft. Das Problem für den Herbst sind die Ungeimpften. Das ist auch bei den Olympischen Spielen so.
Bei aller Kritik sind Sie ein großer Freund des Sports. Blutet Ihnen auch das Herz bei dem Gedanken, dass Olympische Spiele ohne Zuschauer stattfinden werden?
Sörgel: Wir haben uns beim Fußball ja daran gewöhnt. Während der EM haben wir uns wieder umgewöhnt und jetzt eben wieder ohne Zuschauer. Das ist schon eine Bergund Talfahrt. Aber man muss auch mal sehen, wie Sport während Olympia transportiert wird. Nehmen wir zum Beispiel einen 400-Meter-Lauf. Unter normalen Umständen würde schon auch mal das volle Stadion im Fernsehen zu sehen sein, aber auch nicht lange. Die Kameras sind auf die Bahn und die einzelnen Sportler und ihren Zweikampf ausgerichtet. Das ist in Tokio nicht anders. Die TV-Stationen werden sich sicher was einfallen lassen, was atemberaubende Kameraeinstellungen anbetrifft – es sind Fernsehspiele in reinster Form, die die Faszination des Sports besonders transportieren.
Das zweite große Thema im Vorfeld der Spiele ist, dass durch die weltweiten Lockdowns auch das Doping-Kontroll-System zwischenzeitlich fast zum Erliegen kam. Der Investigativjournalist Hajo Seppelt sprach schon von Doping-Spielen, die auf uns zukommen. Wie schätzen Sie das ein?
Sörgel: Nun gut, Hajo Seppelt muss das immer ein bisschen drastisch formulieren, sonst hört niemand zu. Das gestehen wir ihm zu. Und es ist schon erstaunlich, dass die Leistungen zuletzt teilweise sogar besser waren als 2019. Wir haben zum Beispiel in Deutschland phasenweise einen Rückgang der Tests auf zehn Prozent gehabt. Viele andere Länder, die schon unter normalen Umständen ein laxes System haben, hatten in der Zeit der Pandemie alle Freiheiten. Und auch als national schon wieder getestet wurde, waren die so wichtigen internationalen Tests noch gar nicht möglich, dass Kontrolleure in andere Länder reisen. Wenn das Niveau höher ist als 2019, dann ist der Verdacht von Hajo Seppelt umso berechtigter. Teilweise haben im Vorfeld der Spiele phänomenale Leistungssprünge stattgefunden.
Wenn nun also die Weltrekorde wie am Fließband aufgestellt werden, kann das nicht mit rechten Dingen zugehen? Sörgel: Kommt drauf an, in welcher Sportart. Im Bogenschießen meinetwegen würde das nicht viel aussagen. Wenn aber in der Leichtathletik zehn Weltrekorde purzeln, dann wäre das schon auffällig. Weltrekorde sind eben Parameter, an denen man ablesen kann, was unter Umständen im Illegalen stattgefunden hat.
Wobei Kritiker einwenden könnten,
dass man eine außergewöhnliche Leistung auch mal würdigen könnte, ohne sie gleich unter Verdacht zu stellen.
Sörgel: Dem stimme ich gerne zu. Das ist der alte Zwiespalt. Und es ist natürlich schon so, dass die Wissenschaft immer mehr ins Training eindringt. Das war früher hauptsächlich mit Chemie, also Doping, so, denn man muss die ganzen Mittel erst mal von einem Pharmakologen finden lassen. Heute wird sich der Trainingslehre wissenschaftlich genähert. Da ist noch einiges möglich.
Die Verwissenschaftlichung des Sports ...
Sörgel: Absolut. Der Sport ist eben ein riesiges Geschäft. Und oft ist es doch so, dass mit illegalen Mitteln gearbeitet wurde. Trotzdem muss man akzeptieren, dass die Sportwissenschaft auch funktionieren kann, ohne dass sie Dopingmittel einsetzt. Ich kann nicht einfach sagen, dass jeder gedopt ist, der eine große Leistung vollbringt. Da spielen so viele Dinge eine Rolle, zum Beispiel Talent, Training und Disziplin. Interview: Andreas Kornes
Prof. Fritz Sörgel ist Leiter des Instituts für Bio medizinische und Pharmazeuti sche Forschung in Nürnberg und ein führender Do pingExperte Deutschlands.