Augsburger Allgemeine (Land West)
Als Neunjährige musste sie schon ihre Mutter pflegen
Porträt Marion Einsiedler weiß, wie es ist, wenn Kinder sich um die Eltern kümmern müssen. Sie engagiert sich dafür, das Thema bekannter zu machen – etwa zum Augsburger Friedensfest
Marion Einsiedler war erst neun, als ihre Mutter schwer erkrankte. Als sich ihre Eltern ein paar Jahre später trennten, schlüpfte sie immer mehr in eine Rolle, die so gar nicht zu einem jungen Mädchen passen mag. „Ich war für meine Mutter verantwortlich, habe viel im Haushalt erledigt, den Arzt gerufen, bin in die Apotheke gegangen oder habe die Tasche gepackt fürs Krankenhaus.“Mit den praktischen Alltagshilfen war es für die Schülerin Marion, die damals im Allgäu lebte, nicht getan. Da ihre Mutter nicht gut vernetzt gewesen sei, habe sie auch als Partnerund Freundinnenersatz gedient. „Ich hatte immer das Gefühl, ich habe eine Sonnenschein-Funktion und muss Freude ins Haus bringen.“Bis zu deren Tod vor zwei Jahren hat sich Einsiedler um ihre Mutter gekümmert. „Ich habe sie zu mir nach Augsburg geholt, wo sie zuletzt in einer betreuten Wohnanlage lebte.“
Lange hatte die heute 33-jährige Sozialwissenschaftlerin keinen Namen für das, was sie für ihre Mutter tat und wofür sie auf vieles verzichtete, was für ein Kind, einen Teenager oder eine junge Frau selbstverständlich ist. Irgendwann habe sie ihre Situation reflektiert und sei auf den englischen Begriff Young Carers gestoßen, was frei übersetzt junge Kümmerer heißt.
Er steht für Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen und sich um sie kümmern. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es diesen Begriff in Deutschland noch nicht allzu lange. Dabei sind junge Pflegende kein Einzelfall, sondern in vielen Familien anzutreffen. Allein in Bayern gibt es rund 35.000 Young Carers, wie zum Beispiel Lana Rebhan aus Unterfranken, die die Internetplattform www.young-carer-hilfe.de gründete, um anderen Betroffenen zu helfen und ihnen Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch zu geben.
Marion Einsiedler möchte das Thema auch in Augsburg hinter geschlossenen Wohnungstüren hervorholen. Zusammen mit ihrem Partner Ralf Thiel produzierte sie in den vergangenen Monaten einige Podcasts (Hörsendungen), in denen junge Pflegende ihre Geschichte erzählen
Junge Pflegende sind keine Einzelfälle
und Experten zu Wort kommen. Die Initiative Young Helping Hands, die in Deutschland Anlaufstelle für junge Menschen in Pflegeverantwortung ist, wird in einem der Beiträge vorgestellt. In zwei Folgen spricht Einsiedler mit langjährigen Freundinnen über ihre eigene Geschichte und darüber, wie die beiden Vertrauten sie damals wahrgenommen haben. Zu hören sind diese unter anderem auf Spotify.
Als die 33-Jährige vom diesjährigen Motto des Augsburger Friedensfestes „Fürsorge“erfuhr, kam ihr die Idee, das Thema im Programm zu verankern. Das klappte, und so werden ab 21. Juli drei weitere Podcast-Folgen unter https://www.friedensstadt-augsburg.de/young-care-matters-augsburg abrufbar sein. Darüber hinaus findet am Montag, 26. Juli, um 19.30 Uhr die Podiumsdiskussion „Young Care Matters – auch in
Augsburg!“statt. Wer sorgt im Familienalltag für wen? Und wie? Wie können Young Carers und ihre Familien sinnvoll unterstützt werden? Wie wird eine Stadt „young-carerfreundlich“? Diese und weitere Fragen diskutieren die Gäste aus Sozialpolitik, Kinder- und Jugendhilfe,
Young Carers Community und Pflegeberatung im Annahof im moderierten Gespräch miteinander und mit dem Publikum. Der Eintritt ist frei. Wegen Corona ist eine vorherige Anmeldung erwünscht unter der Adresse www.evangelische-termine.de.
Marion Einsiedler würde sich freuen, wenn junge Pflegende in Augsburg zu der Veranstaltung kommen oder sich mit ihr unter youngcarematters@gmail.com in Verbindung setzen würden. Denn an weiteren Geschichten ist die Frau, die an der Hochschule Kempten
als Sozialwissenschaftlerin tätig ist, auch über das Friedensfest hinaus interessiert. Eines ist ihr wichtig: „Ein Young Carer zu sein hat nicht nur negative Seiten.“Die Kinder und Jugendlichen entwickelten auch Ressourcen, aus denen sie schöpfen könnten.