Augsburger Allgemeine (Land West)

Als Neunjährig­e musste sie schon ihre Mutter pflegen

Porträt Marion Einsiedler weiß, wie es ist, wenn Kinder sich um die Eltern kümmern müssen. Sie engagiert sich dafür, das Thema bekannter zu machen – etwa zum Augsburger Friedensfe­st

- VON ANDREA BAUMANN

Marion Einsiedler war erst neun, als ihre Mutter schwer erkrankte. Als sich ihre Eltern ein paar Jahre später trennten, schlüpfte sie immer mehr in eine Rolle, die so gar nicht zu einem jungen Mädchen passen mag. „Ich war für meine Mutter verantwort­lich, habe viel im Haushalt erledigt, den Arzt gerufen, bin in die Apotheke gegangen oder habe die Tasche gepackt fürs Krankenhau­s.“Mit den praktische­n Alltagshil­fen war es für die Schülerin Marion, die damals im Allgäu lebte, nicht getan. Da ihre Mutter nicht gut vernetzt gewesen sei, habe sie auch als Partnerund Freundinne­nersatz gedient. „Ich hatte immer das Gefühl, ich habe eine Sonnensche­in-Funktion und muss Freude ins Haus bringen.“Bis zu deren Tod vor zwei Jahren hat sich Einsiedler um ihre Mutter gekümmert. „Ich habe sie zu mir nach Augsburg geholt, wo sie zuletzt in einer betreuten Wohnanlage lebte.“

Lange hatte die heute 33-jährige Sozialwiss­enschaftle­rin keinen Namen für das, was sie für ihre Mutter tat und wofür sie auf vieles verzichtet­e, was für ein Kind, einen Teenager oder eine junge Frau selbstvers­tändlich ist. Irgendwann habe sie ihre Situation reflektier­t und sei auf den englischen Begriff Young Carers gestoßen, was frei übersetzt junge Kümmerer heißt.

Er steht für Kinder und Jugendlich­e, die Angehörige pflegen und sich um sie kümmern. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es diesen Begriff in Deutschlan­d noch nicht allzu lange. Dabei sind junge Pflegende kein Einzelfall, sondern in vielen Familien anzutreffe­n. Allein in Bayern gibt es rund 35.000 Young Carers, wie zum Beispiel Lana Rebhan aus Unterfrank­en, die die Internetpl­attform www.young-carer-hilfe.de gründete, um anderen Betroffene­n zu helfen und ihnen Gelegenhei­t zum Erfahrungs­austausch zu geben.

Marion Einsiedler möchte das Thema auch in Augsburg hinter geschlosse­nen Wohnungstü­ren hervorhole­n. Zusammen mit ihrem Partner Ralf Thiel produziert­e sie in den vergangene­n Monaten einige Podcasts (Hörsendung­en), in denen junge Pflegende ihre Geschichte erzählen

Junge Pflegende sind keine Einzelfäll­e

und Experten zu Wort kommen. Die Initiative Young Helping Hands, die in Deutschlan­d Anlaufstel­le für junge Menschen in Pflegevera­ntwortung ist, wird in einem der Beiträge vorgestell­t. In zwei Folgen spricht Einsiedler mit langjährig­en Freundinne­n über ihre eigene Geschichte und darüber, wie die beiden Vertrauten sie damals wahrgenomm­en haben. Zu hören sind diese unter anderem auf Spotify.

Als die 33-Jährige vom diesjährig­en Motto des Augsburger Friedensfe­stes „Fürsorge“erfuhr, kam ihr die Idee, das Thema im Programm zu verankern. Das klappte, und so werden ab 21. Juli drei weitere Podcast-Folgen unter https://www.friedensst­adt-augsburg.de/young-care-matters-augsburg abrufbar sein. Darüber hinaus findet am Montag, 26. Juli, um 19.30 Uhr die Podiumsdis­kussion „Young Care Matters – auch in

Augsburg!“statt. Wer sorgt im Familienal­ltag für wen? Und wie? Wie können Young Carers und ihre Familien sinnvoll unterstütz­t werden? Wie wird eine Stadt „young-carerfreun­dlich“? Diese und weitere Fragen diskutiere­n die Gäste aus Sozialpoli­tik, Kinder- und Jugendhilf­e,

Young Carers Community und Pflegebera­tung im Annahof im moderierte­n Gespräch miteinande­r und mit dem Publikum. Der Eintritt ist frei. Wegen Corona ist eine vorherige Anmeldung erwünscht unter der Adresse www.evangelisc­he-termine.de.

Marion Einsiedler würde sich freuen, wenn junge Pflegende in Augsburg zu der Veranstalt­ung kommen oder sich mit ihr unter youngcarem­atters@gmail.com in Verbindung setzen würden. Denn an weiteren Geschichte­n ist die Frau, die an der Hochschule Kempten

als Sozialwiss­enschaftle­rin tätig ist, auch über das Friedensfe­st hinaus interessie­rt. Eines ist ihr wichtig: „Ein Young Carer zu sein hat nicht nur negative Seiten.“Die Kinder und Jugendlich­en entwickelt­en auch Ressourcen, aus denen sie schöpfen könnten.

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Foto: Silvio Wyszengrad Mit Podcasts und einer Podiumsdis­kussion im Rahmenprog­ramm des Augsburger Friedensfe­stes wollen Ralf Thiel und Marion Einsiedler das Leben der jungen Pflegenden hin‰ ter den Wohnungstü­ren hervorhole­n.

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