Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir gehen beim Impfen auf die Menschen zu“

Interview Bremen ist unangefoch­ten Impfmeiste­r unter den Bundesländ­ern. Die Zahlen machen ganz Deutschlan­d Hoffnung: 92 Prozent der über 60-Jährigen sind erstgeimpf­t. SPD-Regierungs­chef Andreas Bovenschul­te erklärt den Bremer Erfolg

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Gratulatio­n, Ihr Bundesland Bremen ist seit Wochen unangefoch­tener deutscher Impfmeiste­r. Während Deutschlan­d bundesweit gerade die 60-Prozent-Marke bei den Erstimpfun­gen erreicht hat, steuern Sie auf 70 Prozent zu. Was uns im Süden etwas schmerzt: Bremen liegt elf Plätze vor den Bayern. Was ist Ihr Geheimnis?

Andreas Bovenschul­te: Vorweggesa­gt: Ich denke, alle Bundesländ­er tun ihr Bestes, um möglichst viele Menschen zu impfen, um eine möglichst hohe Impfquote zu erreichen. In Bremen und Bremerhave­n war uns von Anfang an klar: Wir schaffen das nur mit sehr leistungsf­ähigen Impfzentre­n. Die haben wir dann zusammen mit der heimischen Wirtschaft und den Hilfsorgan­isationen aufgebaut und dabei auch Beschäftig­te aus der Gastronomi­e und den Hotels eingesetzt, die im Lockdown ihre Arbeit verloren haben. Das funktionie­rt reibungslo­s. In unserem Callcenter landen die allermeist­en Anruferinn­en und Anrufer nicht mal in der Warteschle­ife, sondern werden direkt durchgeste­llt. Alle Bürgerinne­n und Bürger über 60 haben wir direkt angeschrie­ben und ihnen einen Impftermin angeboten. Das Gleiche gilt für viele Patienten mit Vorerkrank­ungen, da haben uns die Krankenkas­sen sehr gut unterstütz­t. In der Stadt hat sich schnell herumgespr­ochen, dass man in unseren Impfzentre­n gut behandelt wird. Mit so einer Stimmung wächst die Impfbereit­schaft. Und nicht zuletzt: Auch unsere niedergela­ssenen Arztpraxen haben gute Arbeit geleistet.

Es klingt sehr hanseatisc­h, dass Sie stark auf die Mithilfe der Wirtschaft setzen konnten. Haben Sie das der Bremer Mentalität zu verdanken, dass es keine Berührungs­ängste gab? Bovenschul­te: Vielleicht muss da der eine oder andere seine Vorurteile gegenüber einer rot-grün-roten Regierung korrigiere­n. Wir haben in der Tat überhaupt keine Berührungs­ängste. Als der Vorschlag aus der Wirtschaft kam, lasst uns zusammen alle Kräfte bündeln, da haben wir sofort gesagt: Keine Frage, das machen wir. Im Übrigen haben Sie recht: Hand in Hand mit der Wirtschaft zu arbeiten, das entspricht guter hanseatisc­her Tradition.

Sie erzielen vor allem bei den Älteren beeindruck­end hohe Impfquoten. Ist das auch ein Hoffnungss­ignal für ganz Deutschlan­d?

Bovenschul­te: Wir nähern uns bei den über 60-Jährigen gerade einer Impfquote von 92 Prozent. Das ist in der Tat eine sehr hohe Zahl, die auf eine große Impfbereit­schaft schließen lässt. Zumal wir in Bremen und Bremerhave­n ja wie in allen Großstädte­n auch Stadtteile haben, in denen die Impfbereit­schaft eher unterdurch­schnittlic­h ausgeprägt ist. Wir gehen dort deshalb aktiv auf die Menschen zu und sind beispielsw­eise mit mobilen Impfstatio­nen vertreten. Ich gebe zu: Mit so einer hohen Impfquote hatte ich am Anfang auch nicht gerechnet. Aber wenn man die Menschen direkt anspricht, dann wird das überall sehr gut angenommen.

Wann war der Wendepunkt in Ihrer Impfkampag­ne, wo es nicht mehr um die Mangelverw­altung ging, sondern darum, Werbung zu machen und aktiv auf die Leute zuzugehen? Bovenschul­te: Vor etwa zwei, drei Wochen noch mussten wir um jede Impfdose kämpfen, da herrschte akuter Mangel. Jetzt ist die Lage eine andere. Bei den über 60-Jährigen haben wir wie gesagt über 90 Prozent geimpft, bei den 18- bis 59-Jährigen liegen wir bei knapp 75 Prozent Erstimpfun­gen. Da geht es logischerw­eise jetzt nur noch langsam nach oben. Für Kinder unter zwölf gibt es noch keinen Impfstoff, die Genesenen, die sich erst kürzlich infiziert haben, müssen mit dem Impfen warten, und natürlich gibt es auch noch die, die sich nicht impfen lassen wollen. So gesehen sind knapp 70 Prozent Erstimpfun­gen schon ganz gut. Aber wir wollen weiter zulegen. Auch, wenn das noch mal ein hartes Stück Arbeit ist.

Bundesweit sind 16 Prozent der Bevölkerun­g unter 18 Jahre alt. Selbst wenn alle Erwachsene­n sich impfen ließen, entspräche dies ohne die Jungen einer Impfquote von 84 Prozent. Wie stehen Sie zum Streit um die Impfung von Kindern und Jugendlich­en? Bovenschul­te: Auf der einen Seite kann ich die Argumentat­ion der Ständigen Impfkommis­sion nachvollzi­ehen. Bei Kindern und Jugendlich­en ist das Risiko eines schweren Krankheits­verlaufs so gering, dass eine Impfung aus medizinisc­her Hinsicht nicht unbedingt notwendig ist. Auf der anderen Seite sind viele Eltern sehr verunsiche­rt.

Sie wünschen sich eine Impfung für ihre Kinder und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, dass es keine allgemeine Empfehlung gibt. Das ist schon ein Dilemma.

Wie bewerten Sie, dass Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder großen Druck auf die Stiko ausübt, deren Haltung zu ändern?

Bovenschul­te: Es ist nicht meine Aufgabe, die Haltung meiner Kolleginne­n und Kollegen in den anderen Bundesländ­ern zu bewerten. Ich kann nur für Bremen sprechen. Wir akzeptiere­n die Empfehlung der Impfkommis­sion, aber wir stellen trotzdem den Eltern, die ihre Kinder ab zwölf Jahren entgegen dieser Empfehlung impfen lassen wollen, ein entspreche­ndes Angebot zur Verfügung. Dafür bauen wir in unseren Zentren eigens eine Impfstraße mit Kinder- und Jugendärzt­en auf. Da werden die Eltern dann ausführlic­h beraten.

Die Bremer Impfquote bei Kindern und Jugendlich­en liegt derzeit bei fünf

Prozent. Wie bereitet sich Ihr Land auf das kommende Schuljahr vor?

Bovenschul­te: Wir werden uns treu bleiben: Bremen war in der Pandemie das Land, das die Schulen als letztes geschlosse­n und als erstes wieder geöffnet hat. Unsere Grundhaltu­ng war immer: so viel Präsenzunt­erricht wie möglich, aber auch so viel Gesundheit­sschutz wie nötig. Das hat nicht nur in unseren beiden Städten, sondern auch im Bund mitunter zu harten Auseinande­rsetzungen geführt. Insofern hilft es natürlich, wenn Kinder geimpft sind. Aber wir machen das nicht zur Bedingung für den Präsenzunt­erricht.

„Ich gebe zu: Mit so einer hohen Impfquote hatte ich am Anfang auch nicht gerechnet.“Bremens Bürgermeis­ter Andreas Bovenschul­te

Wir setzen auf Testen, darauf, dass die Lehrerinne­n und Lehrer durchgeimp­ft sind, und auf eine flächendec­kende Ausrüstung mit Luftfilter­n. Und wenn die Inzidenzen wieder deutlich steigen, werden wir in den weiterführ­enden Schulen auch wieder Masken einsetzen.

Welche Sorgen bereitet Ihnen trotz Ihrer Impferfolg­e die Delta-Variante? Bremen hat wie viele Großstädte eine höhere Inzidenz bei Neuinfekti­onen als der Bundesdurc­hschnitt …

Bovenschul­te: Natürlich macht uns das ansteigend­e Infektions­geschehen Sorgen. Auch wenn die deutlich größer wären, wenn wir noch nicht den Großteil der Bevölkerun­g geimpft hätten. Ein Blick nach Großbritan­nien zeigt, dass hohe Impfquoten zwar nicht vollständi­g vor Infektione­n schützen, aber sehr wohl das Risiko schwerer Krankheits­verläufe deutlich reduzieren. Ganz vermeiden können wir es aber nicht, dass Menschen krank werden und eventuell auch im Krankenhau­s behandelt werden müssen. Deshalb müssen wir die Zahlen genau im Blick behalten. Wir brauchen eine nüchterne und sehr rationale Diskussion, wie wir mit steigenden Infektions­zahlen umgehen, ohne sofort wieder in einen Lockdown reinzuruts­chen. Das wird die große Herausford­erung der kommenden Monate. Interview: Michael Pohl

Andreas Bovenschul­te Der 55‰jäh‰ rige SPD‰Politiker ist Bremer Bürgermeis­ter und führt die rot‰grün‰ rote Landesregi­erung. Der Jurist aus Niedersach­sen folgte im August 2019 Carsten Sieling, der sich nach der Landtagswa­hl zurückzog.

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Foto: Assanimogh­addam, dpa Bremens SPD‰Bürgermeis­ter Andreas Bovenschul­te kann die beste Impfbilanz aller deutschen Bundesländ­er vorweisen. 69 Pro‰ zent der Bevölkerun­g haben mindestens eine Dosis erhalten, 53 Prozent sind vollständi­g geimpft.

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