Augsburger Allgemeine (Land West)

Stummer Alarm bei der Flut – ein deutsches Lehrstück

Naturkatas­trophe Als die Wassermass­en Westdeutsc­hland erfassten, wurden nicht alle Menschen in den heimgesuch­ten Landstrich­en rechtzeiti­g gewarnt. Sirenen sind oftmals abgebaut, der Staat verließ sich auf eine Warn-App, weil auf einen Fehlschlag ein Fehls

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Die gute Nachricht zuerst in dieser Erzählung, wie sich Deutschlan­d ein zweites Mal im Weg steht – auch dieses Mal mit tödlichen Folgen. Noch frisch ist der Eindruck davon, wie langsam und mit welch veralteter Technik der Staat (Faxgeräte) das Coronaviru­s eindämmen wollte. Nun hat sich die Unfähigkei­t ein zweites Mal bei den Sturzflute­n in Rheinland-Pfalz und NordrheinW­estfalen wiederholt. 160 Menschen sind ertrunken, noch immer werden etliche vermisst.

Immerhin, es soll sich etwas tun, wie Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Mittwoch in Berlin angekündig­t hat. Möglichst bis zur Bundestags­wahl sollen die Behörden in der Lage sein, auf alle

Handys in Katastroph­engebieten Warn-SMS zu senden. Genau genommen schickt der Netzbetrei­ber im Auftrag des Staates keine SMS, sondern eine Push-Nachricht an die Geräte. „Wenn ich noch da bin, unverzügli­ch. Das ist unsere Pflicht“, erklärt der scheidende Minister und meinte damit den Zeitraum bis zur Wahl Ende September. Der ihm unterstell­te Chef des Bundesamte­s für Bevölkerun­gsschutz und Katastroph­enhilfe sei zuversicht­lich, dass dies klappen werde. Die Niederland­e, ebenfalls von Überschwem­mungen betroffen, erreichten auf diesem Weg nach amtlichen Zahlen 90 Prozent der Bevölkerun­g ab zwölf Jahren.

Obwohl die Warnung vor Katastroph­en in Deutschlan­d Sache der Länder und lokal der Landrätinn­en und Landräte ist, kann Seehofer nicht jegliche Verantwort­ung für die tödlichen Fehler von sich weisen. Der Grund: Vergangene­s Jahr hatte der bundesweit­e Warntag Anfang September gezeigt, dass die Alarmierun­g der Bevölkerun­g nicht funktionie­rt. Nachrichte­n auf der Warn-App Nina kamen zu spät. Überhaupt war das Programm bis dato nur 7,6 Millionen Mal herunterge­laden worden.

Kommt das Wasser in der Nacht, hören viele Leute ihr Handy nicht. Früher hätten die Landräte und Bürgermeis­ter die Sirenen heulen lassen. Während des Kalten Krieges gehörte das Heulen in Bundesrepu­blik und DDR beinahe zum Alltag. Doch es gehörte zur Friedensdi­vidende, dass die Sirenen als überflüssi­g betrachtet wurden, weil die Be

nicht mehr da war. Aus diesem Grund wurden Sirenen vielerorts abmontiert. Die Feuerwehrl­eute werden heute meist über ihre persönlich­en Piepser alarmiert.

Als eine Lektion aus dem schiefgega­ngenen Warntag legte Seehofer ein Förderprog­ramm von 88 Millionen Euro auf, damit Sirenen wieder aufgestell­t werden. Der 72-Jährige beließ es nicht dabei. Er schickte den Chef seiner Katastroph­enschutzbe­hörde in die Wüste und installier­te an der Spitze den erfahrenen CDU-Innenpolit­iker Armin

Schuster. Die Behörde bekam außerdem einen neuen Zuschnitt: Sie kann die Länder seitdem auch bei Naturkatas­trophen unterstütz­en, während sie davor nur in Kriegszeit­en tätig werden durfte. Das war ein Erbe des Kalten Krieges, das abgeschaff­t wurde. Dennoch sagt es viel über die deutsche Kleinstaat­erei, dass eine Bundesbehö­rde mit ihren Fachleuten praktisch nicht helfen durfte, obwohl der Eiserne Vorhang schon 1989 gefallen ist. Unter Schuster entwickelt­e das Amt auch einen neuen Leitfaden für Katastrodr­ohung phen, aber der neue Behördenle­iter versäumte es, das Thema WarnSMS beherzt anzupacken. So fehlte ein wichtiges Glied in der Alarmkette, das sich technisch relativ schnell umsetzen lässt, auf jeden Fall schneller, als im ganzen Land wieder Sirenen aufzubauen.

Bei der nächsten Flut sollen die Betroffene­n über viele Kanäle vor dem drohenden Unheil gewarnt werden: Sirene, Warn-App, SMS, Fernsehen, Radio und gegebenenf­alls durch Lautsprech­erdurchsag­en von Feuerwehr und Polizei. „Es reicht ja nicht aus, nur akustisch zu warnen, die Bevölkerun­g muss ja auch erfahren, wie sie sich verhalten soll“, sagte Seehofer.

Eigentlich wollte der CSU-Politiker den Warntag in diesem Jahr wiederhole­n lassen – und zwar mit funktionst­üchtigen Warnsystem­en. Der Tag wurde auf nächstes Jahr verschoben, weil es der Staat nicht wie anvisiert binnen Jahresfris­t hinbekomme­n hat. „Wenn Sie so wollen, war die Vorhersage von mir falsch, schlichtwe­g falsch“, musste Seehofer einräumen.

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Foto: Jens Kalaene, dpa Warnungen per App erreichen nicht je‰ den.

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