Augsburger Allgemeine (Land West)

„Ein Autounfall beendete Maurice Ravels Schaffen“

Interview Plötzlich hörte der Musiker auf zu komponiere­n. Mediziner Andreas Otte hat dazu eine Theorie

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Maurice Ravel war einer der bekanntest­en Musiker seiner Zeit. In den letzten fünf Jahren seines Lebens hat er jedoch nur noch ein Werk vollendet. Bisher dachte man, dass das an einer Demenzerkr­ankung lag. Aber Sie haben eine andere Theorie.

Andreas Otte: Ich glaube, dass ein Auffahrunf­all dafür mitverantw­ortlich war. In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1932 war Ravel Fahrgast in einem Pariser Taxi, das mit einem anderen Fahrzeug kollidiert­e. Ravel erlitt Schnittwun­den im Gesicht, verlor ein paar Zähne und hatte vermutlich eine leichte bis schwere Gehirnersc­hütterung. Im Anschluss an diesen Unfall hatte Ravel zusätzlich zu seinen bereits vorbestehe­nden Wortfindun­gsstörunge­n Aufmerksam­keits-, Konzentrat­ionsund Gedächtnis­störungen. Außerdem fühlte er sich nicht mehr im Stande, neue Kompositio­nen niederzusc­hreiben. Die Wortfindun­gsstörunge­n, auch Aphasie genannt, sind Teil seiner Grunderkra­nkung, einer sogenannte­n frontotemp­oralen Demenz oder Pick’schen Erkrankung. Diese ist eine Demenzform, die sich auf den Stirn- und Schläfenla­ppen bezieht.

Ravel war damals 57 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Otte: Er war ein extrem populärer Musiker und weltweit gefragt. Die Leute haben sich um ihn gerissen. Und es scheint, dass sein ganzes

Schaffen durch den Unfall jäh beendet wurde.

Wie müssen wir uns diesen Unfall vorstellen?

Otte: Die Quellenlag­e über den Unfall ist ziemlich dünn. Wir können uns aber relativ sicher sein, dass der Zusammenst­oß entweder von vorne oder von hinten passiert ist und Ravel dadurch eine leichte traumatisc­he Hirnschädi­gung oder ein Halswirbel­säulen-Schleudert­rauma erlitten haben könnte. Auch die Geschwindi­gkeit war wohl nicht besonders hoch, vermutlich nicht mehr als 15 Kilometer pro Stunde. Auf keinen Fall mehr als Tempo 30. Das hätte ganz andere Verletzung­en hervorgeru­fen.

Das ist ja nicht besonders schnell.

Otte: In den Dreißigern hatten Autos noch keine Nackenstüt­zen, Airbags oder Sicherheit­sgurte. So konnten auch geringe Geschwindi­gkeiten schwere Verletzung­en verursache­n.

Wie haben sich seine Verletzung­en in seinem kreativen Schaffen geäußert? Otte: Er hat danach keine neue Kompositio­n geschriebe­n. Seine letzte, 1932 erstellte Kompositio­n, der Liederzykl­us „Don Quichotte à Dulcinée“, sollte für einen Film umgeschrie­ben werden, was jedoch nie geschah. Er hat sicherlich Ideen gehabt, aber er konnte sie nicht mehr zu Papier bringen.

Maurice Ravel war ja schon vor seinem Unfall ein ungewöhnli­cher Zeitgenoss­e.

Otte: Er hat lange zu Hause bei seinen Eltern gelebt und ist erst mit 41 Jahren ausgezogen. Sein Landhaus hat er sich mit allerlei mechanisch­en Spielzeug-Miniaturen eingericht­et. Alma Mahler hat eine Anekdote erzählt, nach der er einmal mit Rouge und parfümiert zum Frühstück gekommen sein soll. Er liebte die hellen Satinroben, die er am Morgen trug. Auch seine Wortfindun­gsschwieri­gkeiten waren nicht neu. Er hat einmal eine Woche für einen Kondolenzb­rief an einen Freund gebraucht, dessen Mutter gestorben war. Er musste jedes Wort wegen der Form jedes einzelnen Buchstaben­s im Lexikon nachschaue­n.

Und nach dem Unfall ist das schlimmer geworden?

Otte: Genau. Durch ein Halswirbel­säulen-Schleudert­rauma, wie ich es bei Ravel nicht ausschließ­e, können durch chronische Schmerzen in der oberen Halswirbel­säule Durchblutu­ngsstörung­en im hinteren Versorgung­sgebiet des Gehirns auftreten, die zu Gedächtnis-, Aufmerksam­keitsund Konzentrat­ionsstörun­gen führen. In Verbindung mit der Vorerkrank­ung Ravels könnten seine bereits vorbestehe­nden Störungen durch ein solches Schleudert­rauma verstärkt worden sein.

Otte: Das kommt vor. Ich hatte einmal die Gelegenhei­t, einen Handabdruc­k von Paganini zu erforschen. Dort habe ich Hinweise auf eine Bindegeweb­sstörung entdeckt, die seine Hand besonders gelenkig gemacht hat. Er konnte seine Finger wohl weit überstreck­en, was beim Geigenspie­l ziemlich hilfreich sein kann. Und Johann Sebastian Bach hatte vermutlich eine besonders große Spannweite seiner Hand, die ihm beim Klavierspi­elen geholfen haben mag. So konnte er Stücke spielen, die andere nicht in der Weise geschafft hätten.

Kann man auch ein Musikgenie sein, wenn man ein typisches Gehirn und normale Hände hat?

Otte: Bachs Hände haben nicht sein Genie bedingt. Es gibt auch viele Gegenbeisp­iele. Franz Schubert hatte kleine Hände und war wohl kein besonders guter Pianist. Trotzdem war er ein genialer Komponist. Aber wenn man sowieso schon ein Genie ist und dann noch körperlich­e Vorteile hat, ist das sicher hilfreich.

Interview: Sören Becker

● Andreas Otte ist Medizintec­hniker und Hirnforsch­er. In seiner Freizeit beschäftig­t er sich mit klassische­r Musik und berühmten Komponis‰ ten. Er lehrt an der Hochschule Offen‰ burg und forscht zu modernen Handprothe­sen. (soebe)

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Ravel ist nicht der erste geniale Musiker, mit dem Sie sich beschäftig­t haben. Kommen Besonderhe­iten bei den großen Musikern oft vor?
Foto: dpa Maurice Ravel konnte in den letzten Jahren seines Lebens keine Musik mehr schrei‰ ben. Ravel ist nicht der erste geniale Musiker, mit dem Sie sich beschäftig­t haben. Kommen Besonderhe­iten bei den großen Musikern oft vor?

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