Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Erben des Mafiajägers
Kriminalität Vor 30 Jahren ermordete die Cosa Nostra auf Sizilien den italienischen Staatsanwalt Giovanni Falcone. In der Folge lehnten sich aber Jugendliche gegen das organisierte Verbrechen auf. Und das wurde eine Erfolgsgeschichte.
Palermo Die Explosion war kilometerweit zu hören. Dario Riccobono und sein Vater schreckten auf. Von zu Hause aus machte sich der damals Zehnjährige auf zu der Stelle an der Autobahn, von wo der infernalische Knall herzukommen schien. „Wir dachten, es sei vielleicht ein Unfall passiert“, erzählt Riccobono, heute 40 Jahre alt. Es war der 23. Mai des Jahres 1992. Vater und Sohn gelangten an die Stelle an der A29 am Stadtrand von Capaci. „Es sah aus wie im Krieg“, sagt Riccobono, „man sah einen riesigen Krater, die Autobahn war weggesprengt und glich einem Feldweg. Ich sah zerfetzte Bäume, umgestürzte und zerstörte Fahrzeuge. Es war fürchterlich.“Riccobono erinnert sich an die Carabinieri und Polizisten, die am Ort des Verbrechens ermitteln sollten und ziellos umherirrten. Manche der Männer weinten. Es war die Apokalypse.
Es ist 30 Jahre her, dass die italienische Cosa Nostra den Staatsanwalt Giovanni Falcone, seine Frau Francesca Morvillo sowie drei Leibwächter mit jenem Sprengstoffanschlag ermordete. 500 Kilogramm TNT-Sprengstoff hatten die Helfer von Mafiaboss Toto Riina in einen Abflusskanal unter der Autobahn geschoben. Man kann den vergitterten Kanal heute noch sehen. Eine sechs Meter hohe Gedenkstele mit den Namen der Opfer ragt in der Nähe in den Himmel Siziliens. Der Mafioso Giovanni Brusca war es, der in sicherer Entfernung und hinter einem kleinen Trafohaus in den Hügeln hinter der Autobahn die Fernbedienung drückte und die Sprengladung zündete. „No Mafia“(Nein zur Mafia) steht heute in großen blauen Lettern auf der Fassade.
Das Attentat ist 30 Jahre her, es hat nicht nur Sizilien, sondern auch Italien verändert. Das Jahr 1992 war eine Zeitenwende für das Land. Im Februar platzte der Korruptionsskandal Tangentopoli in Mailand auf, der dann zwei Jahre später Silvio Berlusconi an die Macht brachte. Im März ermordete die Mafia Salvo Lima, ihren früheren Verbindungsmann in die christdemokratische Partei. Am 23. Mai starb Giovanni Falcone, im Juli ermordete die Cosa Nostra seinen Kollegen und Freund, den Staatsanwalt Paolo Borsellino. Viele Sizilianer stellten sich damals folgende Frage: Können wir nach diesem Horror einfach so weitermachen oder müssen wir endlich aufstehen und etwas tun? Das Jahr 1992 war das bittere Erwachen der süditalienischen Zivilgesellschaft.
Capaci, Capaci, Capaci. Überall war nun von Dario Riccobonos Heimatort die Rede. Das verschlafene
Dorf am Meer, auf halbem Weg zwischen Flughafen Punta Raisi und Palermo, wurde zum Symbol des Bösen. „Das war schmerzhaft“, erinnert sich der 40-Jährige. Die Mafia hatte nicht nur unschuldige Menschen getötet, sondern mit der extremen Gewalttat auch der Insel und dem Ort ihren Stempel aufgedrückt. „Wir alle spürten Wut, Schmerz, unsere Heimat war missbraucht worden“, erzählt der Sizilianer. Zu viele Menschen waren damals schon der Cosa Nostra zum Opfer gefallen. Sollten es noch mehr werden? Italien war in seinen demokratischen Grundfesten erschüttert. Nun kam es auf die Reaktion des Staates und der Menschen an. Weitermachen wie bisher oder endlich einen Wandel beginnen, das waren die Alternativen.
Falcone und Borsellino wurden zu Helden Siziliens. Heute sind Straßen und Schulen in Italien nach ihnen benannt. In Palermo versammelten sich die Menschen vor der Wohnung des Staatsanwalts in der Via Notarbartolo und hefteten Fotos, Zeichnungen und Friedensbotschaften an einen großen Feigen
Der Falcone-Baum wurde zum Symbol der Zivilgesellschaft, jedes Jahr am Todestag kommen hier vor allem junge Leute zusammen, man nennt sie „Generation 1992“auf Sizilien. Doch symbolische Handlungen genügten freilich nicht im Kampf gegen die Mafia. „Eigentlich waren Falcone und Borsellino gar keine Helden, sondern normale Menschen. Ihre Normalität, ihr Engagement hat sie unter den damaligen Umständen zu außergewöhnlichen Menschen gemacht“, sagt Riccobono.
Das Bewusstsein, dass jeder beim Wandel mithelfen musste, reifte mit den Jahren. Sizilien begann sich zu ändern. 2004, zwölf Jahre nach den Attentaten, gründeten Riccobono und seine Mitstreiter die AntimafiaVereinigung Addiopizzo. Der Verein nahm Ladenbesitzer und Gastronomen unter seine Fittiche, die sich gegen die Zahlung von Schutzgeld, den pizzo, auflehnten. „Ein Volk, das den pizzo zahlt, ist ein Volk ohne Würde“, lautete ihre Devise.
Die Kampagne wurde dank des bewussten Konsumverhaltens der Palermitaner ein großer Erfolg. Bis heute haben sich in ganz Sizilien 971 Unternehmer, Gastwirte, Ladenbesitzer oder Hotelbetreiber Addiopizzo angeschlossen. Die Unternehmen weisen mit einem Aufkleber an ihrem Geschäft darauf hin, dass sie kein Schutzgeld bezahlen. Das ist nicht immer ungefährlich. Es gab etwa einen Fall, bei dem ein Laden plötzlich brannte. Aber danach gab es große öffentliche Proteste. Und die Stadt stellte dem Ladenbetreiber einen neuen Standort zur Verfügung. In einem anderen Fall wurde Polizeischutz abgestellt. Man nimmt den pizzo jedenfalls nicht mehr einfach hin. Und inzwischen heißt es, dass die Mafia einen Bogen um Geschäfte mit dem Addiopizzo-Aufkleber macht. Warum? Sie befürchtet zu viel Ärger.
Seit 2009 betreibt Riccobono zudem eine Reiseagentur des Vereins, Addiopizzo Travel. Man kann dort auf den Spuren der Antimafia-Bewegung Palermo und Sizilien kennenlernen. Vor der Pandemie kamen rund 6000 Urlauber, Studienreisende und Schüler im Jahr. Damit haben die Aktivisten in gewisser Weise eine Forderung Giovanni Falcones erfüllt. Denn der hatte behauptet, dass nicht nur juristische und polizeiliche Verfolgung der Mafia notwendig seien, sondern vor allem ein sozialer Wandel.
Für den setzt sich auch Falcones Schwester ein. „Giovanni veränderte die Ermittlungsmethoden gegen die Mafia grundlegend, er sorgte für eine Veränderung der Gesetzgebung, er setzte sich für die Einrichbaum. tung einer nationalen Antimafia-Behörde ein“, erzählt die 86 Jahre alte Maria Falcone am Telefon in Palermo. Nicht weniger wichtig sei ihrem Bruder gewesen, dass die süditalienische Gesellschaft selbst der Mafia den fruchtbaren Boden entziehe. Dass sie sich gegen die Unterjochung durch die Bosse zur Wehr setze. „Die Mafia wird erst dann besiegt, wenn die gesamte Gesellschaft sich verändert hat“, hatte Giovanni Falcone gesagt. Das war und ist schwierig, aber nicht unmöglich, wie Addiopizzo zeigt.
Auch Maria Falcone, die zum Zeitpunkt des Attentats 56 Jahre alt war, hat diesen Weg eingeschlagen. Sie ist Vorsitzende der Stiftung Giovanni Falcone, die das Erbe des Staatsanwalts vor allem an Jugendliche weitergeben will. „Jeder von uns muss seinen Teil beitragen, ob klein oder groß“, sagte Giovanni Falcone wenige Tage vor seiner Ermordung. Im Februar 1992 hatte Marias kleiner Bruder einen großen juristischen Erfolg erzielt. Im sogenannten Maxi-Prozess gegen die Cosa Nostra mit über 400 Angeklagten bestätigte der Oberste Gerichtshof in Rom die Haftstrafen der Vorinstanzen gegen die Bosse. Die Anklage um Falcone hatte erstmals Kronzeugen wie Tommaso Buscetta zur Aussage gegen die Organisation bewegen können. Die Existenz der Mafia, die sich bis dahin ihrer Verantwortung vor Gericht immer entziehen konnte, war nun höchstrichterlich festgestellt. Gleichzeitig fällte die Cosa Nostra dann das Todesurteil gegen Falcone.
„Die Menschen kommen und gehen, die Ideen aber bleiben“, pflegte der rund um die Uhr bewachte Staatsanwalt zu sagen. Das gilt zum Beispiel auch für Addiopizzo. Hier ist ein Kollektiv am Werk, die einzelnen Mitglieder sind austauschbar, die Idee der Auflehnung aber bleibt. Auch Maria Falcone versucht, die Ideen ihres Bruders am Leben zu halten. Dazu bereist sie ganz Italien und berichtet auf Konferenzen vom Leben und von den Überzeugungen ihres Bruders. Falcone wurde erst nach seinem Tod zum Helden. „Er wurde behindert, ihm wurde nicht geholfen, seine Freunde konnte man an einer Hand abzählen“, sagt Maria. Heute ist die Cosa Nostra dank der Arbeit der Ermittler und Richter geschwächt. „Besiegt ist sie aber noch lange nicht“, sagt Maria Falcone. Und immer noch sind wichtige Fragen nicht geklärt. Offensichtlich wollte die Mafia mit der Eskalation 1992 den italienischen Staat zu Verhandlungen zwingen. Richter haben festgestellt, dass es zu Kontakten zwischen Mitgliedern der Sicherheitsbehörden und der Cosa Nostra kam. Wie tief jedoch der Staat damals mit der Mafia unter einer Decke steckte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Der 23. Mai 1992 war der Tag, an dem sich das Bewusstsein vieler Sizilianer zu ändern begann. „Nach dem Attentat wussten die Leute, auf welcher Seite sie stehen sollten“, sagt Dario Riccobono. Er hat für den Jahrestag einen besonderen Plan, er hat mit dem Trafohäuschen unweit der Autobahn zu tun, von dem aus Giovanni Brusca die Sprengladung zündete. Kurz nach dem Attentat malten Jugendliche die Lettern „No Mafia“auf die Fassade. Wenige Tage später war die Schrift unter mysteriösen Umständen wieder verschwunden. Am ersten Jahrestag der Gründung von Addiopizzo 2005 stiegen Riccobono und seine Freunde hinauf und erneuerten den aus weiter Entfernung sichtbaren Schriftzug. Mit der Zeit ist er blasser geworden. Für den 30. Todestag Falcones hat Addiopizzo eine zivile Prozession zu dem Trafohäuschen organisiert. Mehr als ein Dutzend Vereine aus Capaci, mehr als 1000 Menschen wollen dann hinaufsteigen und gemeinsam den Schriftzug wieder auffrischen. „Für mich ist das eine Art, Frieden mit meinem Heimatort Capaci zu machen“, sagt Riccobono. Die Zeiten haben sich geändert. Vor 30 Jahren wäre so eine Aktion undenkbar gewesen.
Das Land war in seinen Grundfesten erschüttert
Heute ist die
Cosa Nostra geschwächt