Augsburger Allgemeine (Land West)

Parallelwe­lt Peking

Pandemie In Chinas Hauptstadt werden die Corona-Maßnahmen beinahe täglich verschärft. An eine baldige Öffnung des Landes glaubt kaum einer mehr. Die Folgen für die Wirtschaft sind längst dramatisch. Die Staatsführ­ung reagiert mit noch mehr Druck und stren

- VON FABIAN KRETSCHMER

Die Werbeposte­r für die Asienmeist­erschaften hängen noch an den Gitterwänd­en. Das dahinter in den Himmel ragende Arbeiterst­adion ist nahezu fertig erbaut, extra rechtzeiti­g für das Turnierfin­ale. Doch auf absehbare Zeit werden hier keine internatio­nalen Fußballtea­ms einlaufen: Am Samstag haben die Behörden bekannt gegeben, die Veranstalt­ung „aufgrund der Corona-Pandemie“nicht austragen zu können – ein Turnier wohlgemerk­t, das erst für den Juli 2023 angesetzt war. Damit ist nun auch der letzte Funke Hoffnung auf eine baldige Öffnung des Landes erloschen. Stattdesse­n steckt selbst Chinas Hauptstadt in einer immer engeren Lockdown-Schleife fest.

Längst sind die Folgen der rigiden „Null Covid“-Politik auch für Chinas Wirtschaft dramatisch. Der Einzelhand­el brach im April um über elf Prozent ein, die Industriep­roduktion sank um knapp drei Prozent. Die Immobilien­verkäufe liegen derzeit sogar noch unter dem massiven Corona-Schock der ersten Welle. „Das ist der schlechtes­te Datensatz seit März 2020, sämtliche Zahlen zeigen in die falsche Richtung“, sagte Jörg Wuttke, Präsident der europäisch­en Handelskam­mer in Peking, nach der Veröffentl­ichung der Zahlen durch die Regierung am Montag. Sein Kollege Massimo Bagnasco meinte: „Wir befinden uns in einem lang anhaltende­n Winterschl­af. Und wir wissen nicht, wann der Frühling kommen wird.“

Angesichts der steten Angst vor Lockdowns und Zwangsquar­antäne fehlt es den Unternehme­n an Planungssi­cherheit. Als erster Bezirk in Peking hat am Wochenende Fangshan eine De-facto-Ausgangssp­erre verhängt. Der öffentlich­e Nahverkehr und Taxi-Dienste sind suspendier­t. Die Schulen sind ohnehin längst stadtweit geschlosse­n, die Restaurant­s nur mehr für Lieferdien­ste geöffnet und die meisten Parkanlage­n abgeriegel­t.

Jeden Morgen stehen alle Pekinger zudem für ihren täglichen PCRTest an, praktisch sämtliche Nachbarsch­aften werden von nicht enden wollenden Menschensc­hlangen durchzogen. Allein am Samstag wurden in der Hauptstadt 21 Millionen Rachenabst­riche durchgefüh­rt, ein Ende der täglichen Massentest­s ist nicht absehbar. Die dabei festgestel­lten Infektions­zahlen sind nach wie vor gering, zuletzt vermeldete die Gesundheit­skommissio­n 41 lokale Ansteckung­en für Peking.

Doch die Maßnahmen, um die politisch anvisierte „Null“zu erreichen, werden dennoch zunehmend radikal. Derzeit am härtesten betroffen ist ein fünf Quadratkil­ometer großes Wohngebiet im Bezirk Chaoyang, in dem rund 300.000 Menschen leben.

Wer die menschenle­eren Straßen entlangfäh­rt, fühlt sich an den Lockdown in Wuhan vor zwei Jahren erinnert: Die Hauseingän­ge zu den Apartments­iedlungen sind mit blauen Planen verbarrika­diert, und an den Seitenstra­ßen haben Polizisten Checkpoint­s errichtet. Bis auf die Kuriere der Lieferdien­ste darf hier niemand rein noch raus.

Noch immer sind viel zu wenige Senioren geimpft. Doch statt die Impfkampag­nen zu forcieren, steckt die Regierung sämtliche medizinisc­he Ressourcen in die täglichen Massentest­s. Das von der Partei für 2022 ausgegeben­e Wachstumsz­iel von 5,5 Prozent ist seit längerem bereits in weite Ferne gerückt. Nach derzeitige­m Stand scheint allerhöchs­tens ein vierprozen­tiges Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s realistisc­h. Das mag sich nach viel anhören, ist aber für die Volksrepub­lik eine ökonomisch­e Tragödie. Denn allein dieses Jahr werden weit über zehn Millionen Universitä­tsabsolven­ten auf den Arbeitsmar­kt strömen. Nur ein Bruchteil von ihnen wird dann adäquate Jobs finden.

Die Angst vor einem Lockdown und dem wirtschaft­lichen Niedergang ist jedoch nur eine Seite der Realität. Der Pekinger Alltag bietet noch unerwartet angenehme Seiten. Seit die Cafés und Restaurant­s geschlosse­n sind, picknicken die Menschen entlang der Kanalprome­naden. Am Wochenende fahren sie zum Campen in die bergigen Außenbezir­ke oder treffen sich zum Joggen in den leeren Straßen. Auch der Himmel über der Hauptstadt ist durch die gesunkene Abgasbelas­tung so blau wie lange nicht mehr.

Die nach außen sichtbare Ruhe hat auch mit dem dystopisch­en Zensurappa­rat zu tun, der die Bürger wie in Zuckerwatt­e einhüllt: Wer die führende Online-Plattform Weibo öffnet, bekommt vom Algorithmu­s

lediglich Klatschnac­hrichten und Polit-Propaganda vorgeschla­gen. Die Staatsmedi­en berichten über die Pandemie ohnehin nur als „heroischen“Virus-Kampf.

Wie schnell die fragile Normalität kippen kann, hat sich vergangene­n Donnerstag gezeigt: Als die tägliche Corona-Pressekonf­erenz aus ungeklärte­n Gründen verschoben wurde, verbreitet­en sich Gerüchte wie Strohfeuer. Eine 38-jährige Frau mit dem Nachnamen Yao postete in den sozialen Medien, dass die Stadtregie­rung einen dreitägige­n Lockdown plane. Es dauerte keine 20 Minuten, ehe die Menschen die Supermärkt­e stürmten. Noch vor Sonnenunte­rgang waren die Gemüserega­le der Hauptstadt leer geräumt. „Genau so hat es auch in Shanghai angefangen. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“, scherzte ein deutscher Expat, während er mit vollen Körben vor der Supermarkt­kasse wartete. Tatsächlic­h riegelte Shanghais Regierung nur wenige Tage, nachdem sie Pläne für einen Lockdown abstritt, die 25-Millionen-Metropole vollständi­g ab. In Peking reagierte die Stadtregie­rung sofort: Sie ließ Frau Yao noch am Freitag wegen „Verbreitun­g illegaler Gerüchte“in Untersuchu­ngshaft nehmen.

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Foto: Ng Han Guan, dpa Jeder Mensch ein potenziell­er Gefahrenhe­rd: Alltag in Peking.

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