Augsburger Allgemeine (Land West)
Vor Gericht statt in der Schule
Bildung Die Justiz verhandelt bayernweit Fälle, in denen Familien Corona-Regeln im Klassenzimmer ablehnten und die Schulpflicht ignorierten. Das erste Urteil ist schon gefallen.
Günzburg Lukas geht seit über einem halben Jahr nicht zur Schule. Eigentlich käme der Junge, der in Wirklichkeit anders heißt, im Herbst in die vierte Klasse. Doch er weigert sich seit Monaten, den Unterricht in der Montessori-Schule in Günzburg zu besuchen. Erst wegen der Corona-Testpflicht, später, weil er sich in der Klasse nicht mehr wohlfühlte. Das sagt jedenfalls Lukas’ Vater am Donnerstag vor dem Günzburger Amtsgericht. Doch die Erziehungsberechtigten von Lukas müssen laut Gesetz dafür sorgen, dass der Sohn der Schulpflicht nachkommt – auch wenn er nicht will. So erklärt es die Richterin.
Es ist nur eines von aktuell elf Verfahren im Landkreis Günzburg, die alle eines gemeinsam haben: Die Familien schickten ihre Kinder während der Corona-Pandemie teils wochenlang nicht zur Schule. Seit dem Ende der Allerheiligenferien 2021 steht darauf in Bayern ein Bußgeld. Die Eltern sind vor Gericht, da sie Einspruch gegen den Bescheid und die „Verletzung der Schulpflicht“einlegten. An mehreren Orten in Bayern finden nach Informationen unserer Redaktion ähnlich gelagerte Verfahren statt.
Er habe Angst gehabt, sein Kind zu verlieren, sagt Lukas’ Vater gegenüber Richterin Julia Lang. Sie hatte gefragt, warum die Eltern ihren Sohn nicht einfach ins Auto gesetzt und in die Schule gefahren hätten. Der 53-Jährige will klarstellen, dass er und seine Familie weder „irgendwelche Esoteriker noch Corona-Leugner“seien. Schon immer sei der normale Regelunterricht nichts für seinen Sohn gewesen, der lieber draußen in der Natur spielte. Als die Schulen in der Hochphase der Pandemie geschlossen hatten, sei Lukas zu Hause richtig aufgeblüht. Als es ein paar Monate später wieder in die Klasse zurückgehen sollte – mit der Bedingung eines negativen CoronaNachweises –, habe sich Lukas gewehrt, diese Tests zu machen. An diesem Punkt setzt die Richterin die Verhandlung aus: „Ich will gerne noch die Schulleiterin und Klassenlehrerin dazu hören, um zu wissen, was im Hintergrund passiert ist.“
Der Umgang mit Familien, die in den vergangenen beiden CoronaJahren etwa die Maskenpflicht an Schulen ablehnten oder ihr Kind nicht testen lassen wollten, hatte sich im Verlauf der Pandemie ver
Über viele Monate hinweg waren Schulen und die Staatsregierung ihnen gegenüber tolerant. Bis zu den Allerheiligenferien 2021 konnten sich Kinder vom Präsenzunterricht beurlauben lassen, sofern eine „individuell eingeschätzte Risikolage“gegeben war – ein vielfältig auslegbarer Begriff. Nach den Ferien dann griff Bayern durch: Auf Schulschwänzer ohne ärztliches Attest warten seither Bußgelder zwischen fünf und tausend Euro am Tag, dazu die Note sechs in allen verpassten Leistungsnachweisen.
In einem weiteren Fall vor dem Günzburger Amtsgericht berichtet eine Mutter davon, dass sie ihre beiden Kinder ja nur mit allen Mitteln schützen habe wollen und deswegen auch den Schritt vor das Gericht in Kauf genommen habe. Sie sei sich unsicher gewesen, da sie gehört habe, die Teststäbchen, die in den Schulen verwendet wurden, würden krebserregende Stoffe enthalten. Deswegen ließ sie ihre Tochter und ihren Sohn, die beide in eine Grundschule gehen sollten, zu Hause. In
einer privaten Lerngruppe hätten die beiden Kinder trotzdem Schulstoff bearbeitet. Am Ende muss sie 600 Euro Bußgeld plus die Verfahrenskosten zahlen. Insgesamt wurden im Landkreis Günzburg seit Beginn der Pandemie in 290 Fällen Bußgelder wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Unterricht beziehungsweise der Verletzung der Schulpflicht verhängt.
Auch im Landkreis Unterallgäu, einer zweiten Hochburg der Testverweigerer in Schwaben, verhandelt jetzt die Justiz. Bertram Hörtensteiner, Direktor des dortigen Schulamts, hatte schon früh vorhergesagt, dass es zu Prozessen kommen würde: „Die Tendenz zeigt, dass Eltern, die sich aus fester Überzeugung gegen eine Testung entscheiden, sich auch von einem Bußgeldverfahren nicht umstimmen lassen“, prognostizierte er im November 2021 unserer Redaktion. Das Landratsamt Unterallgäu hat eigenen Angaben zufolge seit Ende der Allerheiligenferien 81 Bußgeldbescheide verschickt, weil Schülerinnen und Schüler aufgrund der Coroändert.
na-Regelungen – also Test- und Maskenpflicht – nicht mehr in die Schule kamen. „Im Schnitt lag das Bußgeld je Schulkind bei 240 Euro“, erklärt die Sprecherin der Behörde. „Die geahndeten Zeiträume reichten von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten.“Gegen die meisten Bußgeldbescheide seien Rechtsmittel eingelegt worden. Mittlerweile gehe ein Großteil der Kinder wieder in die Schule.
Die sogenannten anlasslosen Testungen sind seit 1. Mai an allen Schularten in Bayern abgeschafft. Rund ein Jahr lang – seit Ende der Osterferien 2021 – waren NegativNachweise im Klassenzimmer zweibis dreimal pro Woche Pflicht gewesen, um Schulen nicht zu Superspreader-Orten werden zu lassen. Bayernweit waren etwa Ende November 2021, auf dem Höhepunkt der Delta-Welle, rund 3300 Schülerinnen und Schüler längerfristig nicht zum Unterricht erschienen – der Großteil mit ärztlichem Attest. Gleichzeitig häuften sich aber die Verfahren gegen Ärzte, die falsche Atteste ausgestellt haben sollen.