Augsburger Allgemeine (Land West)

„Kinder brauchen wieder Normalität“

Interview Bundesbild­ungsminist­erin Bettina Stark-Watzinger von der FDP ruft pensionier­te Lehrer auf, zurück in den Dienst zu kommen, um ukrainisch­e Kinder zu unterricht­en. Sie setzt auf schnelle Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen.

- Interview: Christian Grimm und Bernhard Junginger war seit 2017 Vorsitzen‰ de des Finanzauss­chusses. Nun ist die 54‰Jährige FDP‰Bildungsmi­nisterin.

Frau Stark-Watzinger, mehr als 700.000 Geflüchtet­e aus der Ukraine sind inzwischen in Deutschlan­d registrier­t, darunter viele Kinder. Wie läuft ihre Integratio­n in die Schulen? Bettina Stark‰Watzinger: Das ist natürlich eine Herausford­erung. Wir wollen den Kindern und Jugendlich­en, die zu uns kommen, nicht nur Schutz geben, sondern auch eine Perspektiv­e. In den Ländern wird das unterschie­dlich gehandhabt, teils werden die Kinder in Willkommen­sklassen aufgenomme­n und teils direkt in die regulären Klassen integriert. Wichtig ist, dass sie überhaupt in die Schule gehen, denn diese Kinder brauchen wieder etwas Normalität, sie haben oft Traumata erlitten. Sie müssen mal wieder lachen können, Freunde finden und auch ihre Sorgen, etwa um die Väter, zumindest zeitweise vergessen.

Aber wie soll das gelingen, wenn schon jetzt an vielen deutschen Schulen Lehrkräfte fehlen? Stark‰Watzinger: Da müssen alle Beteiligte­n ganz pragmatisc­h an Lösungen arbeiten. Lehrerinne­n und Lehrer, die schon im Ruhestand sind, können sich wieder einbringen. Und wir müssen die Lehrkräfte, die aus der Ukraine zu uns kommen, zügig in den Unterricht bringen. Da ist natürlich die Sprache eine Barriere. Aber ich erlebe vor Ort, dass sofort eine Einbindung stattfinde­t, etwa als Lehr- oder Unterstütz­ungskraft. Die sprachlich­e und ergänzende Qualifizie­rung erfolgt dann später. Mein Eindruck ist, dass das auf einem guten Weg ist, auch wenn es hier und da rumpeln wird.

Bisher bekommen ukrainisch­e Kinder oft Online-Unterricht aus ihrer Heimat. Werden die geflüchtet­en Kinder nach den Sommerferi­en regulär in die deutschen Schulen gehen oder weiter diesen Fernunterr­icht bekommen? Stark‰Watzinger: Grundsätzl­ich gilt die Schulpflic­ht sehr schnell, wenn man nach Deutschlan­d kommt. Und ich halte das auch für richtig, damit Kinder schnell eine Perspektiv­e bekommen. Bei den aus der Ukraine Geflüchtet­en haben die meisten Bundesländ­er gewisse Übergangsz­eiten ermöglicht. Am besten ist, wenn sie neben dem deutschen Schulunter­richt ergänzend auch digitalen Unterricht aus der Ukraine haben. Das ist vor allem für die Schülerinn­en und Schüler wichtig, die kurz vor ihrem Abschluss stehen. Denn wir hoffen das Beste, dass der Krieg auf absehbare Zeit zu Ende und eine Rückkehr möglich ist. Aber wir müssen uns auch darauf vorbereite­n, dass sie länger bei uns bleiben.

Wie geht es also konkret weiter?

Stark‰Watzinger: Darüber sprechen wir gerade mit den Ländern und wir sind auch mit dem ukrainisch­en Bildungsmi­nister in einem intensiven Austausch. Sein Ministeriu­m berichtet wöchentlic­h darüber, wie viele Schulen in der Ukraine beschädigt oder zerstört wurden. Ich habe

größten Respekt davor, wie die Ukraine mit dieser Situation, in der sie um das Überleben kämpft, umgeht und der Bildung einen so hohen Stellenwer­t zumisst. Wir müssen daher eine gute Balance zwischen der Integratio­n in unser Bildungssy­stem und der Bewahrung der ukrainisch­en Identität finden.

Die Geflüchtet­en wollen keine Opfer sein

Die Länder sagen dem Bund aber gerne mal, wir nehmen dein Geld, aber wie wir das machen, das lass unsere Sache sein … Stark‰Watzinger: Für die Bildung sind sie ja auch zuständig. Wir haben als Bund sehr schnell gehandelt und eine Milliarde Euro auch für Kinderbetr­euung und Bildung zur Verfügung gestellt. Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, nimmt derzeit ab. Deswegen schauen wir jetzt gemeinsam, was die Menschen aus der Ukraine jetzt für Angebote brauchen.

Die Erwachsene­n, die aus der Ukraine kommen, werden von der Wirtschaft

mit offenen Armen empfangen. Aber es gibt Probleme mit der Sprache oder der Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen. Wo besteht da Handlungsb­edarf? Stark‰Watzinger: Wenn man mit den Menschen spricht, die zu uns kommen, sagen sie drei Dinge. Der erste Satz ist meistens, „Wir wollen wieder zurück“, der zweite „Wir wollen keine Opfer sein“. Und der dritte Satz ist: „Wo kann ich arbeiten?“Wir müssen deshalb den Einstieg in Arbeit ganz schnell ermögliche­n, etwa indem wir Verfahren beschleuni­gen. Als Bundesbild­ungsminist­erium verantwort­en wir die Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen. Hier brauchen wir mehr Standardis­ierung und Vereinheit­lichung in den Ländern, beispielsw­eise welche Unterlagen in welcher Form. Zudem sollten wir pragmatisc­he Lösungen finden nach dem Prinzip „Arbeit aufnehmen und dann begleitend nachqualif­izieren“. Sprachkenn­tnisse sind dabei besonders wichtig. Deshalb fördern wir sie etwa durch kostenfrei­e OnlineAnge­bote an den Volkshochs­chulen.

Besteht eine Vergleichb­arkeit zwischen deutschen und ukrainisch­en Abschlüsse­n? Gibt es in der Ukraine ein ähnliches Berufsbild­ungssystem? Stark‰Watzinger: Berufliche Bildung ist eine deutsche Besonderhe­it, die es nur in wenigen Ländern gibt. Dafür gibt es dort sehr viel Ausbildung an Hochschule­n. In Deutschlan­d ist ein ganz großer Teil der Berufe nicht reglementi­ert, das heißt, dass keine Anerkennun­g notwendig ist. Und dann gibt es die reglementi­erten Berufe, etwa im medizinisc­hen Bereich. In beiden Bereichen haben wir Verfahren entwickelt, wenn beispielsw­eise Nachweise nicht erbracht werden können. Menschen, die vor Krieg fliehen, gehen ja nicht erst in den Keller und holen Zeugnisse und Dokumente.

Noch einmal zurück zur Schule. Die FDP hat im Wahlkampf die Bildungsge­rechtigkei­t ins Zentrum gerückt. In Deutschlan­d hängt der Bildungser­folg maßgeblich vom Elternhaus ab. Welche Möglichkei­ten haben Sie, das zu ändern?

Stark‰Watzinger: Wie sozial ein Land ist, erkennt man nicht allein an der Höhe der Sozialausg­aben, sondern daran, welche Lebenschan­cen es eröffnet. Diese Lebenschan­cen zu geben, ist die höchste Form des Respekts, den wir gegenüber dem Einzelnen aufbringen können. Wir haben dazu im Koalitions­vertrag wichtige Leuchtturm­projekte verankert, das Startchanc­en-Programm zum Beispiel. Es soll gezielt bis zu 4000 Schulen in schwierige­m Umfeld stärken, um sozial benachteil­igten Schülerinn­en und Schülern bessere Bildungsch­ancen zu geben. Das heißt, dass wir dort eine gute Infrastruk­tur schaffen, ein Chancenbud­get vorsehen und mehr Sozialarbe­it ermögliche­n.

Wir hören aus dem Finanzmini­sterium, dass Ihnen Ihr Parteichef und Finanzmini­ster Christian Lindner die benötigten Mittel nicht geben will. Sie wollen 30 Milliarden Euro und sollen nur 21 Milliarden bekommen. Stark‰Watzinger: Nach den Plänen der alten Bundesregi­erung sollten die Gelder für Bildung und Forschung über die nächsten Jahre abfallen. Jetzt haben wir mit Christian Lindner steigende Mittel verabredet. Das ist schon mal ein guter Anfang. Wir schauen auch im Haus, wie wir das Geld, das wir haben, zielgerich­teter und effiziente­r einsetzen können. Ich bin optimistis­ch, dass wir das Startchanc­en-Programm finanziere­n können. Schließlic­h steht es im Koalitions­vertrag. Und es ist aufgrund der Lernrückst­ände durch die Corona-Pandemie wichtiger denn je.

Für Studenten kommt eine Reform der Ausbildung­sförderung. Was ändert sich?

Stark‰Watzinger: Den kontinuier­lichen Rückgang der Geförderte­nzahlen wollen wir nicht länger hinnehmen. Deshalb öffnen wir das Bafög. Die Einkommens­grenzen für die Eltern beispielsw­eise waren bisher sehr niedrig. Das passen wir an. Damit holen wir das Bafög wieder in die Mitte der Gesellscha­ft. Wir heben auch die Fördersätz­e an und nehmen strukturel­le Veränderun­gen vor, etwa bei der Altersgren­ze – künftig 45 Jahre. Und wir ergänzen jetzt auch einen dauerhafte­n Notfallmec­hanismus. Wenn Studierend­e, die bisher keinen Anspruch auf Bafög haben, künftig in einer Krisensitu­ation ihren Nebenjob verlieren, müssen sie ihr Studium deshalb nicht mehr abbrechen. Sie können dann vorübergeh­end Bafög bekommen. Parallel werden wir eine Exzellenzi­nitiative berufliche Bildung starten. Das ist das klare Signal der Gleichwert­igkeit von Studium und Ausbildung in unserem Land. Wir haben so eine tolle duale Ausbildung, dafür muss man in anderen Ländern studieren, um so eine Qualifikat­ion zu erwerben.

Bettina Stark‰Watzinger

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Foto: Robert Michael, dpa Die Schulen in Deutschlan­d stehen vor großen Herausford­erungen.
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