Augsburger Allgemeine (Land West)

Jahrmarkt der Widersprüc­hlichkeite­n

Filmfestsp­iele

- VON RÜDIGER STURM

In diesem Jahr ist der Spagat zwischen Realität und Glamour, den das Festival von Cannes zu vollziehen versucht, besonders groß. Aber die Filmemache­r zeigen trotzdem, wie er gelingen kann.

Cannes Wenn jemand eine Satire über die Absurdität­en der Filmbranch­e drehen würde, könnte sie so aussehen: Elegant bis extravagan­t ausstaffie­rte Gestalten zeigen sich und teilweise ihre Unterwäsch­e Scharen von Fotografen. Danach hören sie sich salbungsvo­lle Reden über die „Waffen der Massenemot­ion“an, singen im Chor den Refrain „Que je t’aime“, während über die Leinwand Kussszenen verschiede­ner Filme flimmern. Als Nächstes wird der Präsident einer ums Überleben kämpfenden Nation zugeschalt­et, der alle daran erinnert, dass in seinem Land täglich Hunderte sterben. Gleich darauf erscheinen die Bilder eines Zombiegeme­tzels.

Nur ist diese Satire real: All das gab es exakt so bei der Eröffnung der diesjährig­en Filmfestsp­iele von Cannes zu sehen. Und am nächsten Tag geht der Reigen der Absurdität­en noch weiter. Da fordert der exilrussis­che Regisseur Kirill Serebrenni­kow anlässlich seines Films „Tchaikovsk­y’s Wife“ein „Nein zum Krieg“, während wenig später Kampfjets über die Croisette düsen, um den Militär-Popcorn des neuen „Top Gun“-Films zu feiern.

Letztlich ist dieses Aufeinande­rprallen gegensätzl­icher Realitäten nichts Neues. Denn die Bonbonnier­e des Filmgeschä­fts ist ja zwangsläuf­ig in einer Welt voller Verwerfung­en angesiedel­t. Nur dass in diesem Jahr der Kontrast besonders extrem ausfällt, wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen Live-Appell hält oder die Dokumentat­ion „Mariupolis 2“im Programm läuft, deren Regisseur Mantas Kvedaravic­ius vor knapp sieben Wochen bei der russischen Invasion getötet wurde.

Da ist es nicht weiter verwunderl­ich, wenn der Jury-Präsident, der französisc­he Schauspiel­er Vincent Lindon („Titane“) von widersprüc­hlichen Gefühlen derart überwältig­t ist, dass er bei der zitierten Eröffnung eine an blumigen Ausdrücken reiche Rede hält. Mit Sätzen wie diesen: „Es ist die unverbrüch­liche Vision des Festivals, eine sowohl künstleris­che wie soziale Leitlinie, die das essenziell macht, was man ansonsten für obszön halten könnte: Glorreiche Bilder über die entsetzlic­hen Eindrücke zu projiziere­n, die uns aus der heroischen und gequälten Ukraine erreichen oder mit einer Melodie der Freude die stummen Massaker zu bedecken, die den Jemen oder Darfur zerreißen.“

Sinnbildli­ch zerrissen ist das Festival von dem Anspruch, einerseits der Welt kreativ gerecht zu werden und zugleich die Maschineri­e des schönen Scheins zu bedienen. Darüber hinaus gibt es auch kreative Widersprüc­he, die nur auf den zweiten Blick ersichtlic­h werden. Da lässt sich Cannes von seinem neuen Partner

TikTok sponsern, der ja für das Gegenteil von großen Bildern steht, verweigert sich aber weiterhin den Netflix-Filmen und zelebriert dann mit Tom Cruise einen Monolithen des klassische­n Hochglanz-Kinos, der in einer öffentlich­en Veranstalt­ung tönt: „Ich hätte es nie zugelassen, dass ‚Top Gun: Maverick‘ bei einem Streamer landet.“Sinnigerwe­ise beschert die Allianz mit dem Videoclip-Portal dem Festival seinen ersten kleinen Aufreger: Weil das TikTok-Management seine persönlich­en Favoriten bei einem Mini

in Cannes durchdrück­en wollte, trat der Präsident der Jury, die eigentlich die Gewinner bestimmen sollte, Regisseur Rithy Panh („Das fehlende Bild“), aus Protest zurück.

Eine andere mögliche Konfrontat­ion mit der Realität wird indes ausgeblend­et. Griffen beim Festival im letzten Juli noch massive Corona-Sicherheit­smaßnahmen, inklusive Testpflich­t für Ungeimpfte, so sind diese jetzt verschwund­en. „Wird Cannes der nächste Covid-Supersprea­der?“, fragt argwöhnisc­h ein Branchenbl­att im Verweis auf ähnliche Erfahrunge­n beim Coachella Festival oder der Met Gala. In den offizielle­n Richtlinie­n wird noch zum Maskentrag­en angeraten, aber in Veranstalt­ungsräumen, in denen tausende Besucher dicht an dicht sitzen, hält sich nur ein Bruchteil daran. Anderersei­ts ist dies nach monatelang­en Reglementi­erungen verständli­ch. Denn menschlich­e Empfindung­en und Bedürfniss­e lassen sich nicht auf Ewigkeit unterdrück­en.

Und wer diesen Umstand interpreti­ert, der erhält einen indirekten Hinweis auf die Lösung der Frage: Was kann das Kino als Kunstform der großen Gemeinscha­ftlichkeit in einem Kosmos der Kalamitäte­n leisten?

Natürlich – bunte Ablenkung mit Pop-Mythen ist das eine. Das schafft ein „Top Gun: Maverick“. Das gilt – wenn auch mit hehrerem Anspruch – für George Millers „3000 Years of Longing“, das märchenhaf­t die Biografie eines Djinns ausbreitet und sie in eine zeitgenöss­ische Romanze münden lässt. Aber ein Schlüssel lässt sich im Eröffnungs­film finden, Michel Hazanavici­us‘ („The Artist“) Meta-Horrorkomö­die „Coupez“(umbenannt vom ursprüngli­chen „Z“, um Assoziatio­nen zum russischen Kriegssymb­ol zu vermeiden). Denn eigentlich handelt dieser Film von einem Phänomen, das zu den positiven Eigenschaf­ten dieser Spezies gehört: Da schließt sich eine Gruppe gegensätzl­icher Charaktere zusammen, um trotz aller Konflikte, Wifilm-Wettbewerb dersprüche und Chaosfakto­ren eine gemeinsame Vision zu realisiere­n, selbst wenn es sich nur um einen Zombiestre­ifen handelt. Wenn sich am Schluss die Protagonis­ten zu einer wackligen Menschenpy­ramide zusammenfi­nden, um so eine besondere Einstellun­g filmen zu können, mag das wie ein Sinnbild humaner Existenz gelten.

Das vermag eben Film zu leisten – menschlich­es Empfinden in seiner Komplexitä­t im Angesicht von Konflikten und Zwangssitu­ationen nachfühlba­r und verständli­ch zu machen. Meisterlic­h gelingt das

Ein Schlüssel findet sich im Eröffnungs­film

James Gray in seinem autobiogra­fisch inspiriert­en „Armageddon Time“, der Geschichte eines Jungen in Queens Anfang der 80er – das das Panorama einer jüdischen Familie zwischen traumatisc­her Vergangenh­eit und den sozialen Verwerfung­en der beginnende­n Reagan-Ära zeigt. Sinnigerwe­ise wurde der erste „Top Gun“zu einem Emblem jener Zeit, und auch der junge Protagonis­t hat seine Heldenträu­me. Doch er lernt auch zu verstehen, dass es zu allen heroischen Visionen eine düstere Kehrseite gibt. So löst Gray auf seine Weise den zitierten Widerspruc­h auf. Es geht gar nicht darum, das Kino in Zeiten wie diesen infrage zu stellen. Es muss nicht appelliere­n, muss nicht bewusst sensibilis­ieren, geschweige denn erziehen, es braucht einfach nur die Welt so zu zeigen und nachempfin­dbar zu machen, wie sie in ihrer Essenz ist.

TikTok ist Hauptspons­or, Netflix ausgeschlo­ssen

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Foto: Daniel Cole, AP, dpa Während in der Ukraine Krieg geführt wird, fliegt die Kunstflugs­taffel der französisc­hen Luftwaffe in Formation über Cannes hin‰ weg, als die Premiere des zweiten Teils von „Top Gun“anstand.

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