Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Frau mit dem offenen Ohr für Verzweifel­te

Porträt

- VON ANDREA BAUMANN

Hildegard Steuer leitet seit einem knappen Jahr die Augsburger Telefonsee­lsorge. Dort bildet sie vor allem Ehrenamtli­che aus. Was die 55-Jährige an ihrer Aufgabe schätzt.

Telefon, Computer, Pinnwand, Bücherrega­l und Zimmerpfla­nze sind in vielen Büros zu finden. Doch nicht in vielen Räumen dürfte dem Telefonapp­arat noch diese Bedeutung zukommen wie in dem Büro, das sich Hildegard Steuer mit vielen Ehrenamtli­chen teilt. Und in dem es darauf ankommt, zuhören zu können und die richtigen Worte zu finden. Denn am anderen Ende der Leitung sind Menschen, die einsam, verzweifel­t oder gar lebensmüde sind und in ihrer Not die Telefonsee­lsorge angerufen haben.

Hildegard Steuer hat vor einem knappen Jahr die Leitung der ökumenisch­en Telefonsee­lsorge Augsburg übernommen als Nachfolger­in des langjährig­en Chefs Franz Schütz. Während in vielen Bereichen Corona zu Einbrüchen führte, bescherte die Pandemie den hauptund ehrenamtli­chen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn einen starken Zulauf. Mit rund 20.000 Anrufen nahmen sie 2021 etwa 5700 Gespräche mehr als im Vorjahr entgegen. Laut Jahresberi­cht wurden im Schnitt 55 Telefonate am Tag geführt, von denen es sich bei 38 um längere Beratungsg­espräche handelte, mit einer Gesamtgesp­rächszeit von täglich über 13,3 Stunden.

Steuer selbst übernimmt nur hin und wieder eine der mehrstündi­gen Schichten, die es rund um die Uhr an allen Tagen im Jahr gibt, weil Nöte und Lebenskris­en nun mal weder einen Feierabend noch ein Wochenende kennen. Neben der Organisati­on der Geschäftss­telle zählen die Ausbildung und Begleitung der

Ehrenamtli­chen zu den Hauptaufga­ben der 55-jährigen Leiterin. Das knapp 100-köpfige Seelsorget­eam besteht nach ihren Worten mehrheitli­ch aus Frauen in der zweiten Lebenshälf­te. „Ich bin fasziniert von diesen Menschen und ihrem profession­ellen Niveau“, sagt Hildegard Steuer. Diese Fähigkeite­n hätten sich die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in einer einjährige­n Ausbildung – in der Regel einmal wöchentlic­h sowie an einigen Wochenende­n – angeeignet. Denn Empathie und die Bereitscha­ft zuzuhören reichten allein nicht aus, um bei der Telefonsee­lsorge mitzumache­n.

Schließlic­h sind – auch das verrät der Jahresberi­cht – in 60 Prozent der Fälle psychische Probleme bis hin zu Suizidgeda­nken die Auslöser für den Anruf unter den Nummern 0800/1110111 oder 0800/1110222.

Dass bei all diesen Problemlag­en die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r auch selbst Gesprächsb­edarf haben, liegt auf der Hand. Hier kommen oft sogenannte Supervisor­en ins Spiel, die das Handeln mit dem „Blick von außen“betrachten. Auch Hildegard Steuer, die ausgebilde­te Supervisor­in ist, gelangte auf diese Weise vor einigen Jahren zur Telefonsee­lsorge. Sie sei gefragt

worden, ob sie Interesse an der Begleitung einer Gruppe von Ehrenamtli­chen hätte. Sie willigte ein. Und als dann der Abschied von Franz Schütz nahte, sei sie gefragt worden, ob sie sich für die Nachfolge bewerben wolle.

Der Umgang mit Menschen ist der gebürtigen Ostallgäue­rin seit jeher vertraut: 30 Jahre lang unterricht­ete die verheirate­te DiplomReli­gionspädag­ogin an Grund- und Mittelschu­len. Mit ihren zusätzlich­en Ausbildung­en zur Gestaltthe­rapeutin, Coach und Supervisor­in erweiterte Hildegard Steuer später ihr berufliche­s Terrain. An ihrer neuen Station, der Telefonsee­lsorge, fühlt sie sich „am richtigen Platz“. Die Abwechslun­g und Herausford­erung, die hier geboten seien, kämen ihr entgegen. „Hier wird man mit allem konfrontie­rt.“So zugewandt die Leiterin im Gespräch ist, bei einem Aspekt bittet sie um Zurückhalt­ung: Die Adresse der Geschäftss­telle müsse geheim gehalten werden, damit nicht plötzlich Menschen in Ausnahmesi­tuationen vor der Tür stehen. Schließlic­h soll die Zusicherun­g der Anonymität nicht nur für die Anrufer gelten, sondern auch für die Zuhörerinn­en und Zuhörer am anderen Ende der Leitung.

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Foto: Michael Kienastl Als Leiterin der Telefonsee­lsorge übernimmt Hildegard Steuer auch hin und wieder Schichten am Telefon.

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