Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Frau mit dem offenen Ohr für Verzweifelte
Porträt
Hildegard Steuer leitet seit einem knappen Jahr die Augsburger Telefonseelsorge. Dort bildet sie vor allem Ehrenamtliche aus. Was die 55-Jährige an ihrer Aufgabe schätzt.
Telefon, Computer, Pinnwand, Bücherregal und Zimmerpflanze sind in vielen Büros zu finden. Doch nicht in vielen Räumen dürfte dem Telefonapparat noch diese Bedeutung zukommen wie in dem Büro, das sich Hildegard Steuer mit vielen Ehrenamtlichen teilt. Und in dem es darauf ankommt, zuhören zu können und die richtigen Worte zu finden. Denn am anderen Ende der Leitung sind Menschen, die einsam, verzweifelt oder gar lebensmüde sind und in ihrer Not die Telefonseelsorge angerufen haben.
Hildegard Steuer hat vor einem knappen Jahr die Leitung der ökumenischen Telefonseelsorge Augsburg übernommen als Nachfolgerin des langjährigen Chefs Franz Schütz. Während in vielen Bereichen Corona zu Einbrüchen führte, bescherte die Pandemie den hauptund ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen starken Zulauf. Mit rund 20.000 Anrufen nahmen sie 2021 etwa 5700 Gespräche mehr als im Vorjahr entgegen. Laut Jahresbericht wurden im Schnitt 55 Telefonate am Tag geführt, von denen es sich bei 38 um längere Beratungsgespräche handelte, mit einer Gesamtgesprächszeit von täglich über 13,3 Stunden.
Steuer selbst übernimmt nur hin und wieder eine der mehrstündigen Schichten, die es rund um die Uhr an allen Tagen im Jahr gibt, weil Nöte und Lebenskrisen nun mal weder einen Feierabend noch ein Wochenende kennen. Neben der Organisation der Geschäftsstelle zählen die Ausbildung und Begleitung der
Ehrenamtlichen zu den Hauptaufgaben der 55-jährigen Leiterin. Das knapp 100-köpfige Seelsorgeteam besteht nach ihren Worten mehrheitlich aus Frauen in der zweiten Lebenshälfte. „Ich bin fasziniert von diesen Menschen und ihrem professionellen Niveau“, sagt Hildegard Steuer. Diese Fähigkeiten hätten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer einjährigen Ausbildung – in der Regel einmal wöchentlich sowie an einigen Wochenenden – angeeignet. Denn Empathie und die Bereitschaft zuzuhören reichten allein nicht aus, um bei der Telefonseelsorge mitzumachen.
Schließlich sind – auch das verrät der Jahresbericht – in 60 Prozent der Fälle psychische Probleme bis hin zu Suizidgedanken die Auslöser für den Anruf unter den Nummern 0800/1110111 oder 0800/1110222.
Dass bei all diesen Problemlagen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch selbst Gesprächsbedarf haben, liegt auf der Hand. Hier kommen oft sogenannte Supervisoren ins Spiel, die das Handeln mit dem „Blick von außen“betrachten. Auch Hildegard Steuer, die ausgebildete Supervisorin ist, gelangte auf diese Weise vor einigen Jahren zur Telefonseelsorge. Sie sei gefragt
worden, ob sie Interesse an der Begleitung einer Gruppe von Ehrenamtlichen hätte. Sie willigte ein. Und als dann der Abschied von Franz Schütz nahte, sei sie gefragt worden, ob sie sich für die Nachfolge bewerben wolle.
Der Umgang mit Menschen ist der gebürtigen Ostallgäuerin seit jeher vertraut: 30 Jahre lang unterrichtete die verheiratete DiplomReligionspädagogin an Grund- und Mittelschulen. Mit ihren zusätzlichen Ausbildungen zur Gestalttherapeutin, Coach und Supervisorin erweiterte Hildegard Steuer später ihr berufliches Terrain. An ihrer neuen Station, der Telefonseelsorge, fühlt sie sich „am richtigen Platz“. Die Abwechslung und Herausforderung, die hier geboten seien, kämen ihr entgegen. „Hier wird man mit allem konfrontiert.“So zugewandt die Leiterin im Gespräch ist, bei einem Aspekt bittet sie um Zurückhaltung: Die Adresse der Geschäftsstelle müsse geheim gehalten werden, damit nicht plötzlich Menschen in Ausnahmesituationen vor der Tür stehen. Schließlich soll die Zusicherung der Anonymität nicht nur für die Anrufer gelten, sondern auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer am anderen Ende der Leitung.