Augsburger Allgemeine (Land West)

Kampf ums Korn

Hintergrun­d In der Ukraine können viele Millionen Tonnen Getreide nicht als wichtige Lebensmitt­el in die Welt exportiert werden. Die Türkei will nun als Vermittler die russische Blockade überwinden. Doch Russland betreibt längst eigenen Handel.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Rund 20 Millionen Tonnen Getreide lagern in den Silos von Odessa. Das ist knapp zweieinhal­b mal so viel wie die Menge an Getreide, die 80 Millionen Menschen in der Bundesrepu­blik direkt für Lebensmitt­el innerhalb eines ganzen Jahres verbrauche­n. Doch eine russische Seeblockad­e vor der ukrainisch­en Schwarzmee­r-Küste verhindert den Export der Massen an Weizen und Mais. Bis zum Herbst könnten es laut Präsident Wolodymyr Selenskyj 75 Millionen Tonnen sein. Viele Staaten sind von der „Kornkammer“Ukraine abhängig. In einigen Ländern im Nahen Osten und in Afrika werden bereits wichtige Grundnahru­ngsmittel wie Mehl, Brot und Nudeln knapp.

Nun will die Türkei als Vermittler mit Russland über einen „Getreide-Korridor“im Schwarzen Meer verhandeln. Dazu soll der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow an diesem Mittwoch in Ankara landen. Der türkische Plan sieht die Einrichtun­g einer UN-Einsatzzen­trale in Istanbul vor, die den Transport von Millionen Tonnen Getreide zu den Weltmärkte­n koordinier­en soll. Nach russischen Angaben gibt es für den ukrainisch­en Hafen Odessa bereits eine Grundsatze­inigung. Umstritten sind aber wichtige Fragen wie Sicherheit­sgarantien für ukrainisch­e Häfen.

Russland und die Ukraine gehören zu den wichtigste­n GetreideEx­porteuren der Welt. Der russische Angriff auf die Ukraine lässt die Ausfuhren sinken und die weltweiten Getreidepr­eise steigen. Im Mai lagen die ukrainisch­en Ausfuhren von Mais und Sonnenblum­enöl bei nicht einmal der Hälfte des Ergebnisse­s im Vorjahresm­onat. Kiew wirft Russland vor, Getreide aus eroberten ukrainisch­en Häfen zu stehlen und zu exportiere­n. Die US-Regierung hat laut der New York Times die Türkei und 13 andere Staaten – die meisten davon in Afrika – darauf aufmerksam gemacht, dass Russland versuche, gestohlene­s ukrainisch­es Getreide zu verkaufen.

Der Getreide-Raub löste am Montag sogar einen Eklat im UNSicherhe­itsrat aus: Während einer Rede von EU-Ratschef Charles Michel verließ Russlands UN-Botschafte­r Wassili Nebensja den UNSicherhe­itsrat. Michel hatte den rus

Vertreter bei dem Treffen des Rates zum Krieg in der Ukraine direkt angesproch­en und dem Kreml unter anderem den Diebstahl von Getreide aus der Ukraine vorgeworfe­n. Daraufhin ging Nebensja demonstrat­iv aus dem Sitzungssa­al. EU-Ratschef Michel rief ihm nach: „Sie können den Raum verlassen, lieber Herr Botschafte­r, vielleicht ist es einfacher, der Wahrheit nicht zuzuhören.“

Russland hat nach Medienberi­chten bisher unter anderem eine Schiffslad­ung von 27.000 Tonnen Weizen aus der Ukraine ins verbündete Syrien geschickt. Nach Angaben der ukrainisch­en Botschaft in Ankara findet gestohlene­r Weizen

auch in der Türkei selbst Abnehmer.

Die ukrainisch­en Behörden haben die Türkei aufgerufen, russische Schiffe im Bosporus zu stoppen, wenn der Verdacht besteht, dass sie gestohlene Fracht an Bord haben. Bisher ist Ankara darauf nicht eingegange­n. Die Türkei versteht sich als Vermittler im Ukraine-Krieg und wacht über den Bosporus und die Dardanelle­n – die einzige Schifffahr­tsroute vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer.

Die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu meldete, in Gesprächen zwischen den UN, der Türkei und den beiden Kriegspart­eien sollten der Verlauf des geplanten See-Korsischen

ridors und die Räumung von Seeminen vor ukrainisch­en Häfen geklärt werden.

Türkische Regierungs­kreise zeigen sich laut Medienberi­chten optimistis­ch, dass bei Lawrows Besuch Fortschrit­te erzielt werden können. Auch die Verteilung von Verkaufser­lösen solle besprochen werden. Ankara ist bereit, ukrainisch­e Frachter auf dem Weg durch das Schwarze Meer von Schiffen der türkischen Kriegsmari­ne begleiten zu lassen. Die russische Zeitung Iswestija meldete, die türkische Marine solle in den Gewässern vor der Küste von Odessa die Minen räumen und Frachter aus dem Hafen auf das Meer begleiten. Anschlieab­er ßend sollten russische Schiffe die Eskorte bis zum Bosporus übernehmen. Aus Ankara und Kiew gab es keine Bestätigun­g. Auch blieb unklar, was mit Exporten aus anderen ukrainisch­en Häfen geschehen soll.

Lawrow hatte die Türkei zuletzt im März für Gespräche mit seinem ukrainisch­en Kollegen Dmytro Kuleba besucht. Ankara beteiligt sich nicht an westlichen Sanktionen gegen Moskau und hält seinen Luftraum für zivile russische Flugzeuge geöffnet. Deshalb kann Lawrow am Mittwoch ungestört nach Ankara reisen – ein geplanter Besuch des russischen Ministers in Serbien am Montag scheiterte daran, dass die Nachbarlän­der Serbiens keine russischen Maschinen durch ihren Luftraum passieren lassen.

Die türkischen Vermittlun­gsbemühung­en im Ukraine-Krieg sind bisher ergebnislo­s geblieben. Mit den Gesprächen über den „Getreide-Korridor“versucht die türkische Regierung, neue Kontakte zwischen den Kriegspart­eien in Gang zu bringen. Das große Misstrauen zwischen der Ukraine und Russland könnte den Plan jedoch scheitern lassen. Kiew werde dem Plan nur zustimmen, wenn sichergest­ellt werde, dass Russland die Minenräumu­ng nicht ausnutze, um die ukrainisch­e Küste vom Meer her anzugreife­n, sagte der Istanbuler Sicherheit­sexperte Yörük Isik unserer Redaktion. „Was passiert, wenn sie es sich plötzlich anders überlegen?“, fragte Isik mit Blick auf Zusagen russischer Politiker. Russische Kriegsschi­ffe könnten zum Beispiel die ukrainisch­e Hafenstadt Odessa angreifen, wenn die Minen geräumt seien.

Die Ukraine dürfte nach Isiks Einschätzu­ng darauf bestehen, dass sich Staaten wie die Türkei oder Großbritan­nien verpflicht­en, militärisc­h einzugreif­en, wenn Russland den „Getreide-Korridor“für neue Angriffe ausnutzt. Solche Garantien würden das Risiko von Gefechten zwischen Nato-Staaten und Russland mit sich bringen. Bisher hat der Westen solche Zusagen an Kiew vermieden.

Auch Russland hat Sicherheit­sbedenken, wie der türkische Staatssend­er TRT berichtete. Moskau befürchte, dass Frachter militärisc­hes Gerät für die Ukraine transporti­eren könnten, wenn sie Odessa oder andere Häfen anfahren, um Getreide zu laden.

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Foto: Willnow, dpa Weizenkörn­er sind in vielen Staaten bereits Mangelware: Die Türkei will als Vermittler mit Russland über einen „Getreide‰Korri‰ dor“im Schwarzen Meer verhandeln.

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