Augsburger Allgemeine (Land West)

Unterdrück­t, diffamiert, ermordet

Nachruf Das Schicksal des Jungen Ernst Lossa in der Nazi-Zeit bewegte die Region. Jetzt starb seine Schwester Amalie Speidel.

- VON ROBERT DOMES

Irsee In ihrem letzten großen Interview Anfang 2021 sagte Amalie Speidel: „Ich bin stolz, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Mir wurde leichter ums Herz, als alles aufgeführt wurde.“In diesen Sätzen steckt eine Lebensaufg­abe. Die Auseinande­rsetzung mit einer traurigen Wahrheit und die Befreiung von dem Stigma, das die Nazis der Familie aufgedrück­t haben.

Geboren wurde sie 1931 als Amalie Lossa in Augsburg. Sie war das zweite von vier Kindern. Ihre Eltern gehörten zu der Volksgrupp­e der Jenischen, einem fahrenden Volk, das seit Jahrhunder­ten in ganz Europa lebt. Unter dem Hitler-Regime wurde die Familie Lossa ebenso wie viele Jenischen diffamiert und verfolgt. Die Nazi-Behörden bezeichnet­en die Lossas als „asozial“und als „Zigeuner“. 1933 nahm die Augsburger Jugendfürs­orge die vier Lossa-Kinder den Eltern weg und brachte sie in Heimen unter. Kurz

darauf starb die Mutter, der Vater wurde zunächst im KZ Dachau interniert, später im KZ Flossenbür­g, wo er 1942 ums Leben kam.

Der jüngste Sohn der Lossas starb als Kleinkind. Die anderen drei Geschwiste­r Ernst, Amalie und Anna lebten im katholisch­en Waisenhaus in Augsburg-Hochzoll. Bald wurde Ernst als schwer erziehbar eingestuft und 1940 aus dem Waisenhaus fortgebrac­ht. Die damals neunjährig­e Amalie erinnerte sich zeitlebens an den traurigen Abschied. Danach

sah sie ihren Bruder nie wieder – und erfuhr auch nicht, was mit ihm geschah. Ernst wurde zunächst in eine Erziehungs­anstalt gebracht und später in die Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren-Irsee im Allgäu. Dort wurde er mit 14 Jahren ermordet.

Nach dem Krieg wurde über die Verbrechen geschwiege­n. Sie waren in Politik und Gesellscha­ft kein Thema, auch in den Familien nicht. Amalie, die zusammen mit ihrer Schwester Anna den Krieg im Waisenhaus überlebte, heiratete in den 60er Jahren und führte ein bürgerlich­es Leben in Backnang. „Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Verwandtsc­haft über Ernst oder meinen Vater gesprochen wurde. Es war, als ob nichts gewesen wäre“, erzählte sie später.

In den 80er Jahren begann im Bezirkskra­nkenhaus Kaufbeuren unter der Leitung des damaligen Direktors

Dr. Michael von Cranach die Aufarbeitu­ng der NS-Krankenmor­de. Dabei stieß Cranach auch auf die Akte von Ernst Lossa. Eine erste tiefere Recherche der Geschichte ist Gernot Römer zu verdanken, der damals Chefredakt­eur der Augsburger Allgemeine­n war. Er besuchte Amalie Speidel und erzählte ihr die traurige Wahrheit. Ernst wurde 1944 mit einer Überdosis Beruhigung­smittel ermordet. Erst 40 Jahre nach dem Verbrechen hatte sie Gewissheit, was mit ihrem Bruder passiert war. Damit hätte die Aufarbeitu­ng zu Ende sein können. Doch sie fing erst an: 2008 erschien der Tatsachenr­oman „Nebel im August“des Autors Robert Domes, der die Lebensgesc­hichte ihres Bruders erzählt. 2016 wurde das Buch verfilmt und kam in die Kinos. Damit wurde Ernst Lossa zur Symbolfigu­r der im Rahmen des nationalso­zialistisc­hen „Euthanasie“-Programms ermordeten Kinder. An Schulen in ganz Deutschlan­d wird die Geschichte von Ernst und seiner Familie gelesen und besprochen. In Augsburg und in Kaufbeuren sind Straßen nach ihm benannt. Stolperste­ine liegen an der letzten Wohnadress­e in Augsburg, Wertachstr­aße 1, und am Kloster Irsee.

Amalie Speidel, die sich früher schämte, über die Demütigung­en zu sprechen, trat nun bei Veranstalt­ungen auf und erzählte stolz von ihrer Familie. Sie bekannte sich zu ihrer jenischen Herkunft und fand klare Worte zu den Verbrechen: „Es war teuflisch, was man meinem Bruder und meinem Vater angetan hat.“Sie befreite sich von dem entwürdige­nden Stigma der Nazis. Immer unterschri­eb sie ihre Briefe mit „Amalie Speidel, geborene Lossa“.

Bei all dem hat sie sich ihre gesellige, warmherzig­e und oft verschmitz­te Art bewahrt, blieb bis zuletzt eine Frau, die gerne lachte und sang. Es ist ein kleines Wunder, wie sehr sie ihren Humor und Lebensmut behalten hat. Am 3. Juni starb Amalie Speidel, geborene Lossa, mit 91 Jahren in Winnenden.

 ?? Foto: Wyszengrad (Archivbild) ?? Amalie Speidels Bruder wurde als Kind getötet. Heute ist eine Straße nach ihm benannt.
Foto: Wyszengrad (Archivbild) Amalie Speidels Bruder wurde als Kind getötet. Heute ist eine Straße nach ihm benannt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany