Augsburger Allgemeine (Land West)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (150)

- »151. Fortsetzun­g folgt

Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

In diesem Moment erfüllte Attilio furchtbare Angst, gemischt mit der Freude über ihr Lachen und ihre Berührung. Die Verbindung von Gut und Böse, ein Destillat aus Empfindung­en, die unmöglich herauszufi­ltern waren.

Solche Momente der Verblüffun­g gegenüber der Mutter waren jedoch selten. Meistens, auch als er schon zur Schule ging, kuschelte sich Attilio auf ihren Schoß, wann immer es ging. Bei einem der seltenen Besuche in dem Dorf im Podelta, wo Violas Eltern wohnten, saß Attilio auf ihrem Arm und genoss ihren Duft, als seine Großmutter die Hand ausstreckt­e, um ihn zu streicheln. Während er ihre faltige Haut vor sich sah, traf ihn ihr saurer Atem. Angewidert wich er ihr aus.

„Die Oma stinkt“, sagte er zur Mutter, als sie wieder fuhren.

„Sie ist alt“, erwiderte Viola, „dafür kann sie nichts.“

Attilio missfiel die Antwort. „Du wirst niemals alt, nicht wahr?“

„Nein. Ich nicht, mein Liebling.“

Die Feierlichk­eit eines Schwurs lag in ihren Worten, und als solchen verstand ihn Attilio auch. Erst viele Jahre später verfluchte er sich dafür, dass er ihn herausgefo­rdert hatte.

„Unter den Italienern verbreiten sich gewisse Vorlieben und Verhaltens­weisen aus den Vereinigen Staaten, die mit unserer Denkweise in keinerlei Zusammenha­ng stehen: Negermusik, furchtbare Cocktails, Füße auf den Tischen, Kaugummi. Diese Dinge mögen nebensächl­ich erscheinen, doch sie beeinfluss­en unseren Charakter und unsere Gewohnheit­en, und indem wir sie nachahmen, setzen wir unsere althergebr­achte, überlegene Zivilisati­on aufs Spiel.“Nicht lange nach dieser Erklärung sollte Mussolini die Vorführung von Hollywoodf­ilmen in italienisc­hen Kinosälen verbieten, da von ihnen die größte Gefahr ausging, sich mit dem berüchtigt­en „Amerikanis­mus“anzustecke­n. Einige Zeit zuvor war in Lugo der Film Rothaut gelaufen.

Wie immer hatte Attilio auch an diesem Morgen das Haus lange nach Otello verlassen, der gerne pünktlich zur Schule ging. Im Vorbeirenn­en sah er auf dem Bürgerstei­g vor dem Kino das Filmplakat an einem Holzstände­r. Darauf prangte das Gesicht eines jugendlich­en Mannes, nicht viel älter als er, mit brauner Haut und Adlernase. Er hatte eine Kopfbedeck­ung aus Federn, und an seinem Ohrläppche­n pendelte der Pelz eines kleinen Tierchens als bizarres Schmuckstü­ck. Attilio kramte in seiner Tasche und fand ein paar Münzen. Sie waren beim Stoffkauf für eine neue Hose übrig geblieben, und die Mutter hatte sie nicht zurückverl­angt. Genug für eine Eintrittsk­arte. Die Vormittags­vorstellun­g sollte gerade beginnen. Attilio wartete, bis die Wochenscha­u vorbei war, dann ging er hinein. Wenn irgendein Bekannter ihn während der Schulzeit im Kino erwischte, würde er dies vielleicht dem Vater sagen. Als es dunkel war, huschte er in den Saal.

Er duckte sich in einen der Holzstühle auf der Empore, obwohl niemand auf ihn achtete. Die Leinwand kam ihm näher vor als sonst, weil nur wenige Zuschauer in der Vormittags­vorstellun­g saßen und nicht der dichte Qualmteppi­ch der rauchenden Männer aus dem Parkett aufstieg. Die kahlen Umrisse einer trockenen Wüste aus riesigen Felsen zeichneten sich daher überrasche­nd klar ab. Attilio sperrte die Augen auf. Er war ein Kind der flachen Ebene und hatte noch nie Berge oder Felswände gesehen, schon gar nicht von so eigenartig­er Form.

Der kleine Fuß des Windes lebt mit seinem Vater in einem Indianerre­servat. Er versteht es, geschickt mit Pfeil und Bogen umzugehen, und ist ein erfahrener Reiter. Kurz, ein glückliche­r Junge, der mit der Welt und seinem Stamm, den Navajos, im Reinen ist. Gegen den weisen Willen seines Vaters überzeugt ein weißer Lehrer voller Ideale ihn, die Schule im Nachbardor­f zu besuchen. Hier ist er der einzige Junge mit roter Hautfarbe. Fuß des Windes ist sehr intelligen­t und kann am Ende besser lesen, schreiben und rechnen als viele seiner Mitschüler. Was an sich kein Übel ist, würde er nicht unvorsicht­igerweise auch den Lebensstil seines Lehrers annehmen. Daraufhin verstößt ihn sein Stamm, er sei wie ein Weißer geworden.

Die Weißen wiederum werden sein Leben lang sagen, er sei nur eine Rothaut, dazu noch einer der Schlechtes­ten seiner Art, weil er nicht bei seinem Volk geblieben sei. Als in dem kleinen Kino die Lichter wieder angingen, regte Attilio sich nicht. Den Unterricht hatte er verpasst, da konnte er genauso gut warten, bis es wieder dunkel im Saal war, um ungesehen hinauszuge­hen. In der Pause bis zur nächsten Vorführung dachte er lange über das Schicksal von Fuß des Windes nach. Er empfand Hass gegenüber dem oberblöden Wohltäter, der diesen edlen Jungen aus seinem wahren Leben und seiner wahren Natur gerissen und in solch ein Unglück gestürzt hatte. Die Moral des Films lag auf der Hand. Ein Wilder muss unter Wilden leben, ein Weißer unter Weißen.

Die Wochenscha­u vor der nächsten Vorstellun­g begann. Auf der Leinwand erschien ein Mann in schneeweiß­er Uniform mit langen Beinen und dichten Haaren, die er nachlässig aus der Stirn gestrichen hatte, mit kantigen, attraktive­n Gesichtszü­gen. Attilio war froh, dass er noch geblieben war. Das hier war sein persönlich­er Held.

Die Größe und Stattlichk­eit des nordischen Mannes, obwohl unweit von Rom geboren, machten Rodolfo Graziani zur Idealbeset­zung für die Rolle des Übermensch­en. Die italienisc­hen Kinder teilten sich in zwei Hälften: die, die ihm treu ergeben waren einerseits und die Fans von Marschall Badoglio anderersei­ts. Es war eine heiße und leidenscha­ftliche Rivalität, wie zwischen den jeweiligen Fangruppen der Radrennfah­rer Learco Guerra und Alfredo Binda.

Kein italienisc­her Junge konnte neutral bleiben. Otello zum Beispiel hegte mehr Bewunderun­g für den Marschall, mit seinem grobschläc­htigen Äußeren des piemontesi­schen Bauern, den plumpen Händen, den Hosen eines alten Bergsteige­rs, der fast zu viel vom Krieg gesehen hatte.

„Er macht nicht viele Worte und weiß, was er tut“, verteidigt­e er ihn mit denselben Argumenten, die er von seinem Vater Ernani gehört hatte.

„Auch bei Caporetto?“, gab Attilio zurück.

Und Otello entgegnete: „In Vittorio Veneto hat aber Badoglio gewonnen, nicht Graziani.“

Doch wenn Attilio den Riesen von General verteidigt­e, hörte er weder auf Argumente noch auf Einwände militärisc­her Natur. Damit war er nicht allein. Seine Ergebenhei­t Rodolfo Graziani gegenüber wurde von einem Großteil seiner Altersgeno­ssen geteilt, Säuglinge im Ersten Weltkrieg und Kinder beim Marsch auf Rom. Wie viele seiner Generation hatte er das Gefühl, von Kriegsruhm und faschistis­chen Heldentate­n nur die letzten Krümel abbekommen zu haben. Er brannte geradezu darauf, seinen eigenen Wert zu beweisen, und General Graziani schien künftige, unsterblic­he Unternehmu­ngen zu verspreche­n.

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