Augsburger Allgemeine (Land West)
Abschied vom treuen Begleiter
Mode Die Pandemie hat dem Herrenanzug den finalen Stoß versetzt.
Ist es Zeit, sich von einem lieb gewonnenen Lebensbegleiter zu verabschieden? Einem, der modische Epochen geprägt hat? Der Herrenanzug hat einem Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt, hat als der Standard für gute Kleidung gegolten, hat sprichwörtlich Leute gemacht. An ihm lag es, dass man manchmal bei Hochzeiten zweimal hinschauen musste, bis man diejenigen, die unerwartet Anzug trugen, endlich erkannte.
Wie in einem Eintrag ins Poesiealbum hat der Wiener Architekt Adolf Loos in seinem Essay „Die Herrenmode“aus dem Jahr 1898 geschrieben: „Ein junger Mann ist reich, wenn er Verstand im Kopf und einen guten Anzug im Kasten hat.“
Mit seinen 50 Schattierungen von Grau setzte der Anzug die Farbtupfer in der Bürotristesse, war er die Rüstung, mit der sich Geschäftsführer, Abteilungsleiter und Angestellte vor den Fährnissen des Alltags einpanzerten. Ob die Macher der amerikanischen Serie „Suits“vor zehn Jahren wussten, dass sie einen Epilog auf den Anzug in Szene setzten?
Die New Economy, allen voran die Internet-Selfmade-Milliardäre, schliffen die Büroetikette auf Minimalstandards.
Dann kam Corona und versetzte dem Anzug den finalen Stoß. Im Homeoffice gab es keinen Grund mehr, ihn aus dem Schrank zu holen.
Doch halt: Auch wenn namhafte Ausstatter jetzt auf Freizeitgarderobe setzen, hat die FAZ von einem Maßschneider in Frankfurt zu hören bekommen, dass die Nachfrage anziehe. Vielleicht ist eine mögliche Corona-Folge noch nicht final kalkuliert: die Pandemiepfunde, wegen denen dann doch ein Ersatz für den Fall der Fälle, etwa eine Hochzeit, besorgt werden muss.