Augsburger Allgemeine (Land West)
Maifeste und Weißwürste für die Flüchtlinge
Gesellschaft Olesja und Aiver sind vor mehr als zwei Monaten aus der Ukraine geflohen. Wie sich die Flüchtlinge auf dem Lechfeld eingelebt und was sie über deutsche Kultur gelernt haben.
Lechfeld Während Olesja an ihrem Cappuccino nippt, genehmigt sich Aiver ein Stück Himbeerkuchen: „Den wollte ich hier schon lange probieren“, sagt sie und lächelt. Denn das Lechfeld ist bereits seit über zwei Monaten die neue Heimat der beiden Ukrainerinnen. Für wie lange, ist vollkommen ungewiss: „Wir haben aufgehört, darüber nachzudenken, wann wir zurückkönnen.“Bei diesem Satz wird eine Bäckereimitarbeiterin hellhörig: „Kommt ihr aus der Ukraine?“, fragt Diana Haas auf Englisch. Aiver und Olesja nicken wortlos. Auch nach Wochen der Flucht sitzt der Schmerz tief.
Dass die beiden Flüchtlinge wie an diesem Nachmittag bei einem Bäcker in Untermeitingen einfach angesprochen werden, kommt nicht selten vor: „Wenn jemand hört, dass man aus der Ukraine stammt, interessieren sich viele für unsere Geschichte und bieten Hilfe an“, sagt Olesja. Ganz alleine ist die 18-Jährige vor zwei Monaten aus Kiew geflohen. Ihre Familie konnte oder wollte das Land nicht verlassen. Über persönliche Kontakte ist Olesja bei Ilona Popova, einer gebürtigen Ukrainerin aus Untermeitingen, untergekommen.
Diese ehrenamtliche Helferin war es auch, die für Aiver eine private Unterkunft in Klosterlechfeld organisieren konnte. Dort lebt die 39-Jährige nun gemeinsam mit ihrem Sohn, ihrer Schwester und ihrem Neffen. Elf Tage lang war die Familie auf der Flucht aus Charkiw. Auch nach mehreren Wochen in Deutschland fühlt sich Aiver manchmal immer noch wie getrieben: „Es gibt weiterhin viele organisatorische Dinge zu klären; dazu erreichen einen ständig neue Kriegsnachrichten.“Der Ukrainerin ist es daher wichtig, zu sagen, dass einige Flüchtlinge noch etwas Zeit brauchen, um richtig am sozialen Leben auf dem Lechfeld teilhaben zu können. Wenn eine Einladung oder ein Hilfsangebot abgelehnt wird, dürfe man das auf keinen Fall persönlich nehmen: „Wir sind alle so beeindruckt und dankbar für die ganze Unterstützung, aber teilweise auch
überfordert damit.“Trotz allem konnten Aiver und Olesja schon etwas die Region erkunden. „Wenn ich in München bin, fühle ich mich ein bisschen wie zu Hause“, sagt Aiver. Die Stadt erinnere sie mit den vielen Bars und Restaurants, dem internationalen Flair und der U-Bahn an ihre Heimatstadt Charkiw. Unabhängig davon gefallen ihr sowohl an Augsburg als auch an München besonders die Architektur der Häuser und die vielen Parkanlagen: „Die ukrainischen Städte sind nicht so grün.“
Dem kann sich auch Olesja anschließen: „Die Natur hat mir in Kiew echt gefehlt, daher würde ich hier gerne wandern gehen.“Auch die 18-Jährige hat bereits Ausflüge nach Augsburg und München unternommen, doch am meisten hat es ihr Landsberg angetan. „Mit dem Fluss erinnert mich die Stadt an Kiew, aber vielleicht sucht mein
Hirn auch nur zwanghaft etwas Vertrautes“, sagt sie mit einem traurigen Lächeln.
Die Medizinstudentin ist froh, dass sie mit dem 19-jährigen Bruder ihrer Gastmutter schon einen Freund in ihrem Alter gefunden hat. „Er hat mich total schnell in seinen Freundeskreis integriert“, berichtet Olesja. Die Jugendlichen waren bereits gemeinsam am See und haben
Geburtstage gefeiert. In letzter Zeit hatten die Studenten allerdings wenig Zeit für weitere Unternehmungen: Die Prüfungen standen an. Dank Online-Kursen kann auch Olesja ihr Studium an der Universität Kiew auf dem Lechfeld fortsetzen. Die vergangenen Wochen waetwas ren für die junge Frau so stressig, dass sie noch an keinem Deutschkurs teilnehmen konnte.
„Es ist sehr schwer, einen Platz zu kriegen“, sagt Aiver. Daher schätzt sich die 39-Jährige glücklich, dass sie in zwei Wochen ihren Kurs in Augsburg beginnen kann. Nach neun Monaten mit Unterricht an fünf Tagen die Woche bekommen die Kursteilnehmer ein Zertifikat über das Sprachlevel B1, mit dem sich die meisten Alltagssituationen bewältigen lassen. Aivers 13-jähriger Sohn Radomir lernt bereits seit einem Monat Deutsch in einer Willkommensgruppe am Gymnasium Schwabmünchen. „Er ist ganz begeistert von der Schule und lernt sehr schnell“, sagt seine Mutter. Auch Aiver – studierte Informationstechnikerin – möchte nun so schnell wie möglich Deutsch lernen und ihre Englischkenntnisse verbessern: „Nur so ist es möglich, einen
Job zu finden.“Ein paar Brocken Deutsch können Aiver und Olesja bereits. Denn einige Wörter klingen sehr vertraut. „Rucksack spricht man auf Ukrainisch nur etwas anders aus“, sagen sie. Vermutlich liege es an solchen Ähnlichkeiten, dass die deutsche Sprache für die beiden Flüchtlinge nicht so harsch klingt wie für manche Ausländer. Olesja ist den Klang der Sprache schon lange gewohnt: „Ich höre seit meiner Kindheit die deutsche Band Rammstein.“Davon abgesehen war das Einzige, was die 18-Jährige vor ihrer Flucht mit Deutschland verbunden hatte, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel. Aiver dachte bei dem Land vor allem an hohe Qualitätsstandards und die Disziplin der Deutschen.
Nach zwei Monaten in Deutschland sehen die beiden Flüchtlinge diese Klischees erfüllt. „Selbst das Waschmittel ist hier besser; damit wird echt alles sauber“, sagt Olesja und lacht. In einem Bereich könnte sich Deutschland aber von der Ukraine eine Scheibe abschneiden: der Digitalisierung. „Ich habe noch nie so viele Briefe bekommen wie hier; in der Ukraine läuft fast alles Bürokratische online“, berichtet Aiver.
Die 39-Jährige ist dankbar, dass ihr bereits so viele Möglichkeiten geboten wurden, um die deutsche Kultur und regionale Traditionen kennenzulernen: „Das ist eine enorme Bereicherung.“Am besten hat der Ukrainerin bislang das Maifest in Klosterlechfeld gefallen. Nach dem Maibaumaufstellen wurde dort gemeinsam gegrillt. „Deutsche Würstchen haben es mir besonders angetan“, sagt Aiver. Weißwürste, Brezeln, Kässpätzle und Schnitzel – die Ukrainerin hat sich schon quer durch die deutsche Küche probiert. Was ihr dabei aufgefallen ist: „Deutschen Familien scheint es wichtig zu sein, dass man zu festen Uhrzeiten gemeinsam isst.“Außerdem hat sie die geltende Sonntagsruhe auf positive Weise überrascht. „Das würde ich gerne mit in meine Heimat nehmen“, sagt Aiver. Dabei scheint sie mit den Gedanken abzudriften, ihr Blick führt ins Leere. Der Krieg ist auch hier immer präsent.
Die ersten Brocken Deutsch haben sie schon gelernt