Augsburger Allgemeine (Land West)
Bilder einer labilen Welt
Fotografie Wie viel Raum bleibt in Zukunft zum Leben? Drei Künstlerinnen thematisieren in der Ausstellung „Terra infirma“im Kunsthaus Kaufbeuren das problematische Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Kaufbeuren „Alles fließt“, die Welt ist in ständiger Bewegung. Wie oft wurde Heraklits philosophische Erkenntnis schon in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen zitiert. Doch wenn tatsächlich alles fließt, insbesondere für ewig erachtete polare Eismassen, dann wird die Sache ungemütlich. Aus dem Festland, dem festen Boden unter den Füßen wird eine „Terra infirma“, eine unzuverlässige, labile Welt. Unter diesem Titel hat das Kunsthaus Kaufbeuren die Werke dreier Künstlerinnen versammelt, die das seit jeher problematische Verhältnis von Mensch und Natur zum Thema haben. In der Ausstellung geht es aber nicht um Schuldzuweisungen und Anklagen, sondern um eine feine Analyse.
Da sind zum einen die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien von Installationen der tschechischen Künstlerin Magdalena Jetelová (geboren 1946). Für ihr „Iceland Project“hat sie Anfang der 1990er Jahren den genauen Verlauf der tektonischen Nahtstelle zwischen Europa/Afrika und Amerika ermittelt. Dieser „Mittelatlantische Rücken“tritt einzig auf Island über den Meeresspiegel. Dort ließ Jetelová den Verlauf der geologischen Grenze an etlichen Stellen durch einen Laserstrahl markieren. Diese Lichtlinien ziehen sich pfeilgerade und entsprechend unwirklich durch die wild zerklüftete Landschaft der Insel. Doch angesichts der Düsternis der Fotografien wirkt der Strahl auch wie ein Lichtblick, ein Zeichen menschlichen Intellekts in einer menschenfeindlichen Umgebung.
Dass die Natur letztlich aber immer am längeren Hebel sitzt, machen die Fotografien von Jetelovás Projekt „Atlantic Wall“(1995) deutlich. Sie zeigen Bunkeranlagen, die die deutsche Wehrmacht zwischen 1942 und 1944 zur Abwehr der Alliierten an der Atlantikküste errichtet hat. Inzwischen sind die Betonkolosse von den Gezeiten gedreht, gekippt und teils um viele Meter verschoben worden. Die Künstlerin projizierte Slogans an die Kriegsungetüme, die deren Zweck weiter konterkarieren, aber auch von neuem Unheil künden.
Die Natur gewährt dem Menschen nur einen eng begrenzten Streifen, um zu überleben – und der könnte in Zukunft noch schmaler werden. Die Berliner Künstlerin Nathalie Grenzhaeuser (geboren 1969) macht dies in ihrer Fotoarbeit „Der schmale Grat“(2010) überdeutlich: Ein Blick auf eine der arktischen Inseln von Spitzbergen, wo
ihrer im Kunsthaus gezeigten Werke entstanden sind. Der bewölkte Abendhimmel oben und das von der Sonne leicht rötlich gefärbte raue Spiel der Wellen lassen nur wenig Raum für die schemenhaften Hügel und Berge des Festlandes dazwischen. Das Motiv ist hochästhetisch und auch handwerklich perfekt gemacht, aber alles andere als idyllisch.
Darum ging es Grenzhaeuser auch absolut nicht, als sie teils unter widrigsten Bedingungen allein auf Spitzbergen unterwegs war, um zu fotografieren. Ihre Arbeiten sind stets digital überarbeitet, wollen nicht dokumentieren, sondern bisweilen eher verwirren. Da ist eine dick eingemummte Gestalt auf dem Eis zu sehen, die auf den ersten Blick wie ein Inuit bei der Jagd wirkt. Doch es ist ein Forscher, der ein Messgerät anbringt („The Aalstadt Project“). Überhaupt ist es die Forschung, die das Leben auf dem entlegenen Archipel heute prägt. So
hat Grenzhaeuser Messgeräte, die aus der Schneedecke ragen, regelrecht porträtiert, ihnen menschliche, sympathische Züge in dieser menschenfeindlichen Umwelt verliehen (Serie „Arctic Research“, 2016). Parabolantennen oder Messeinrichtungen sind so in Szene gesetzt, dass sie trotz ihrer technoiden Erscheinung deutlich einladender wirken als die dunkle, eisige Natur um sie herum. Selbst auf dem Foto einer totalen Sonnenfinsternis, die 2015 auf Spitzbergen zu sehen war, stehlen die behaglich beleuchten Häuser einer ehemaligen BergbauSiedlung dem Naturspektakel eindeutig die Schau („Eclipse“aus der Serie „Coincidence“). Und die verlassenen Bergwerksanlagen in und um die russische Siedlung Pyramida schockieren zwar durch ihre pure Anwesenheit in dieser Landschaft, geben dem Betrachter aber auch Halt in einer ansonsten totalen Ödnis. „Black Ice“(2016) ist die jüngste Arbeit Grenzhaeusers in der Aussämtliche
stellung. Sie hat Schnee und Eis aus der Arktis – auch dort von Schmutzpartikeln aus der Atmosphäre verunreinigt – unter dem Mikroskop beim Schmelzen zugesehen.
Die filmische Dokumentation dieses Projektes leitet nahtlos über zu den überragenden, poetischen Arbeiten von Clare Langan. Die irische Künstlerin und Filmemacherin (geboren 1967) feiert in „Flight from the City“(2015) das absolute Vertrauen zwischen Mutter und Tochter. Doch ist diese Harmonie in Zeiten von Klimaaktivisten, die sich unter der Bezeichnung „Die Letzte Generation“an Hauptstraßen kleben, noch angemessen? Viele Fragen zum Verhältnis von Mensch und Natur, betörend ästhetisch visualisiert, stellt auch „The Heart of a Tree“(2020). Darin kämpfen sich drei futuristische menschliche Gestalten durch eine beängstigend karge Gebirgslandschaft, um schließlich Baumsetzlinge zu pflanzen. In „The Floating World“(2013) zeigt
Langan in sepiagebleichten Bildern die gigantomanische Skyline von Dubai, versunken in gletscherartigen Wolken, die schroffe Klosterinsel Skellig Michael südwestlich von Irland („Star Wars“-Fans kennen sie als Schauplatz der jüngsten Episoden) und die von Vulkanausbrüchen zu einem beträchtlichen Teil zerstörte Karibikinsel Montserrat. Drei überwältigende Arbeiten zur Kraft der Natur und zur Fragilität der Zivilisation.
Der Soundtrack zu Langans Filmen, gestaltet vom Isländer Jóhann Jóhannsson, erklingt übrigens bewusst in der gesamten Ausstellung und verdeutlicht zusätzlich zum Gesehenen, wie eng die Arbeiten der drei Künstlerinnen zusammengehören und wie perfekt sie zusammenpassen.
Die Ausstellung „Terra infirma“läuft bis zum 11. September im Kunsthaus Kaufbeuren. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags und feiertags 10 bis 17 Uhr.