Augsburger Allgemeine (Land West)
„Das ist bewusst keine Abrechnung mit Kurz“
Interview Der frühere Gesundheitsminister Österreichs, Rudolf Anschober (Grüne), erklärt, wie seine Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Ex-Kanzler Sebastian Kurz ablief und wie er die Corona-Krise wahrgenommen hat.
Herr Anschober, Sie sind im April letzten Jahres als Gesundheitsminister ausgeschieden: Ist Österreich auf den Herbst für Corona vorbereitet? Rudolf Anschober: Es ist richtig, jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen, schon im Sommer – nicht erst im Herbst. Ich denke, dass Johannes Rauch (amtierender Gesundheitsminister, Grüne, Anm. der Redaktion) genau das macht. Und auch richtig kommuniziert: Der Herbst wird schwierig, das Virus bleibt. Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir aus dem Klein-Klein herauskommen, und uns das Ziel stecken, eine europaweite Pandemiestrategie zu erarbeiten. Wir alle haben strikt national reagiert, haben der EU keine Rolle gegeben. Jetzt haben wir das Paradoxon, dass wir noch immer mitten in der Pandemie stecken, aber keine europaweit koordinierte Strategie haben.
Dass es so gut wie keine Maßnahmen über den Sommer gibt, auch die Indoor-Maskenpflicht gefallen ist, halten viele Experten für problematisch. Die Zahlen steigen schon jetzt, die neue Variante BA5 wird sich wohl durchsetzen. Hat man da wirklich aus der Vergangenheit gelernt?
Anschober: Es wird von mir keine Kritik an Parteikollegen geben – das wäre aus meiner Sicht einfach unloyal. In einer Pandemie reden viele mit und entscheiden viele mit. Zwar trägt der Gesundheitsminister die Letztverantwortung, weil er die Verordnungen erlässt – die aber müssen vorher ausverhandelt werden. Auch die Länder müssen eingebunden werden, das war natürlich in der Vergangenheit schwierig. Aber: Wenn wir etwas gelernt haben, dann müssen wir das im Herbst zeigen. Es braucht jetzt eine europaweite Strategie, das zeigt sich nach diesen zweieinhalb Jahren immer deutlicher. Wir haben offene Grenzen, die Menschen sind hungrig nach Reisen und Erholung, und die Pandemie ist alles andere als vorüber. Das Virus hat zurzeit die Nase vorn. Daher müssen wir offensiver werden, um das Virus zu kontrollieren.
Ist Ihr Buch „Pandemia“eine Art von Abrechnung mit Ihrem ehemaligen Koalitionspartner Sebastian Kurz? Anschober: Das ist bewusst keine Abrechnung, sondern eine Aufarbeitung. Es gäbe natürlich genug zu schreiben für eine Abrechnung – das ist aber in jeder Koalition der Fall. Mir ist es aber darum gegangen, Gruppen sichtbar zu machen, auf die viel zu wenig gesehen wurde: das Pflegepersonal. Hier strudeln wir in eine wirklich schwierige Situation hinein, und zwar ebenfalls europaweit. Viele werden aus dem Beruf aussteigen. Und weiters die LongCovid-Erkrankten: Das ist eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem. Eine neue schwere chronische Erkrankung, für die man neue Strukturen aufbauen muss, wo man erst lernen muss, damit umzugehen. Es gibt noch immer kaum Spezialisten, die sich in die Materie einarbeiten. Und das Buch ist eine Bilanz. Was hat funktioniert? Was nicht? Ich bin überzeugt: Das wird wohl nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Daher müssen wir aus den ersten beiden Jahren lernen.
Was hat aus Ihrer Sicht während Ihrer Amtszeit nicht funktioniert? Anschober: Bei Ischgl, aber nicht nur dort, denn es gab mehrere „Superspreader“-Events in Europa, wurde spät reagiert. Niemand war wirklich vorbereitet. Ein modernes Pandemiegesetz, ein guter Pandemieplan, Vorbereitungsmaßnahmen wie Lager für Schutzmasken, Kleidung und Tests hat überall in Europa gefehlt. Ein Fehler, den ich persönlich heute erkenne: Ich hätte einen Teil meines Ressorts an Kollegen übergeben sollen und mich ausschließlich auf das Pandemie-Management konzentrieren sollen. Das, was bei mir an Überlastung zum Schluss da war, hätte ich so vermeiden können. Aber: Wir sind in der ersten Welle
ganz gut gestartet. Alle Parteien waren einig, wir haben an einem Strang gezogen. Das war erfolgreich, hat aber zu einem Paradoxon geführt: Die Freude, dass man es geschafft hat, kippte dann in Unsicherheit: Waren all die Maßnahmen wirklich notwendig, in dem Ausmaß? Das war das bekannte Präventionsparadoxon. Manche haben sich gedacht: So schlimm war das ja nicht – und haben das Virus zu unterschätzen begonnen. Die Konsequenz war ein Vertrauensverlust, der bis heute enorm ist. Dieser Grundstimmung im Sommer 2020 sind wir zu wenig entschlossen entgegengetreten. Was wir tun hätten sollen, ist noch klarer und dramatischer zu sagen: Achtung!
Das ist nur eine kurze Pause. Es ist uns nicht gelungen, die Solidarität der ersten Pandemiemonate in der gesamten Bevölkerung wiederherzustellen, ein Teil der Bevölkerung ist weggebrochen. Gleichzeitig ist die Corona-Leugner-Bewegung immer stärker geworden. Auch da haben wir zu spät reagiert, zu wenig Aufklärungsarbeit geleistet – in ganz Europa. Auch hier braucht es eine europäische Initiative, die gibt es bis heute nicht. Das ist auch etwas, das mir bei den Lesungen aus meinem Buch massiv entgegenschlägt: Der europaweite und auch regionale Flickenteppich aus immer unterschiedlichen Maßnahmen ist offenbar ein Hauptgrund für den Vertrauensverlust in die Maßnahmenpolitik. Und das ist bitter, denn Vertrauen ist der wichtigste Wirkstoff in einer Pandemie.
Kurz inszenierte sich nach Pandemiebeginn als „Krisenmanager“, wie lautet Ihre Bilanz der Zusammenarbeit? Anschober: Am Beginn war das eigentlich eine gute Kooperationsbasis. Und das, obwohl ich eine Grundskepsis hatte, vor Beginn der Koalition mit Kurz. ‚Wir müssen das versuchen‘, das war damals Konsens innerhalb der Grünen. Ich war damals eher der, der Maßnahmen gut überdenken wollte, Kurz wollte Schrittmacher sein. Das hat sich sehr gut ergänzt. Ab Herbst 2020 hat sich das schrittweise ins Gegenteil verkehrt: Da wurde er zurückhaltend. Manchmal hab ich mich, vor allem in den letzten drei Monaten, auch in der Auseinandersetzung mit Lobbygruppen und den Ländern, ziemlich allein gefühlt. Warum, da kann ich nur mutmaßen: Dass die Zustimmung zu den Maßnahmen abgenommen hat, kann auch eine Rolle gespielt haben. Ich habe es jedenfalls so wahrgenommen, dass die Unterstützung plötzlich sehr stark abgenommen hat.