Augsburger Allgemeine (Land West)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (157)
SStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
ein Ziel ist der Traum vom Ruhm, sang die Stimme für Attilio. Der Traum von einem Feuer, das brennt und verzehrt. Und wenn ein Feuer dich verbrennt, hast du keine Wahl. Auch wenn zwischen dir und dem Traum der Krieg steht, musst du ihm folgen. Du kannst nur weitergehen, denn was hinter dir liegt, gibt es nicht mehr.
Der Gesang verstummte, und auf dem Dampfer antwortete ein fröhlicher Chor. Die Gesichter der Kameraden waren erhitzt von der Sonne und den Versprechungen, ihre Nasen gerötet von den Pülverchen, die sie von den Booten gekauft hatten, die wie ein Bienenschwarm um den Kiel schipperten. Attilio Profeti wedelte mit den Lotteriescheinen aus Tripolis, die er gerade erstanden hatte, und stimmte in ihre lauten Gesänge ein.
Nell’Africa quaggiù, se bianche non ce n’è, noi bacerem le more, noi bacerem le more …
Wenn’s nunmal in Afrika keine weißen Frauen gibt, dann küssen wir halt schwarze, dann küssen wir halt schwarze …
2010
Es heißt, bei der Abschiebepolizei hält es niemand länger als ein paar Monate aus, es sei denn, er ist ledig oder geschieden. Ständige Bereitschaft, unregelmäßige Arbeitszeiten, Tagessätze, die ein Witz sind und zudem nur für den Hinflug genehmigt werden – im Ministerium glaubt man offenbar, dass die Beamten zurückgebeamt werden. Am Ziel angekommen, manchmal in so fernen Ländern wie Peru, hätte man eigentlich das Recht auf eine vierundzwanzigstündige Pause vor dem Rückflug nach Italien, aber das macht fast niemand.
Die meisten checken im selben Flugzeug ein, mit dem sie gekommen sind. Dann haben sie also zwölf Stunden oder mehr hinter sich, in denen sie einen Typen ruhigstellen mussten, dem gerade das geschieht, was er im Leben am meisten fürchtet oder verabscheut, müssen gleichzeitig den anderen Passagieren größtmögliche Ruhe vermitteln, haben dann ein, höchstens zwei Stündchen, um sich die Beine zu vertreten, bevor es wieder zurück in die Druckkabine des Interkontinentalfluges geht. Mit etwas Glück am Fenster, denn das Betrachten der Wolken lenkt ein bisschen ab.
Wenn sich daher die Kollegen auf solchen Missionen beklagen, dass sie ihre Familien nicht mehr sehen, ihre Frauen genervt sind, sie die Kinder nur noch schlafend erleben, erwidert der Assistente Capo Barozzino: „Hab ich ein Glück, dass ich Witwer bin.“
Bei der Vorauswahl für den psychologischen Eignungstest hat er den Witz allerdings nicht gebracht. Im Gegenteil, er hat alles getan, um bei den Tests zu beweisen, dass der Baum, gegen den Anna geknallt ist, ihm nicht die Selbstkontrolle geraubt hat, und auch nicht die Fähigkeit, unter Stress Ruhe zu bewahren oder die eigene Position nicht zu missbrauchen.
Anders als manche junge Kollegen, die sich mit der Pistole in der Hand plötzlich allmächtig fühlen und den Festgenommenen mit Ohrfeigen traktieren. Woraufhin er, Barozzino, ihnen eine knallt, aber so richtig, dass man den Abdruck sieht. Dann halten sie sich verblüfft die Wange wie kleine Jungs, die sie bis vor kurzem noch waren, und du kannst sicher sein, dass das nicht nochmal passiert.
Er hat den Eignungstest bestanden, dann wurde er eine Woche lang speziell geschult. Nun ist er der Einzige unter den Kollegen, dem es nichts ausmacht, tagelang von zu Hause weg zu sein – auch ohne langen Planungsvorlauf. Im Gegenteil. Immer noch besser als zu Hause allein auf den Fernseher zu starren. Oder unter den Fingern die warme, weiche Haut auf der anderen Seite des Bettes zu spüren und dann festzustellen, dass es nur ein Kissen war.
Seit mittlerweile vier Jahren begleitet Barozzino Männer und Frauen raus aus Italien, Menschen, die schreien und um sich treten oder mit gesenktem Kopf schweigen. Er hat schon einiges gesehen. Aber das heute – nein, so etwas hat er noch nie erlebt.
Er hat schon Menschen nach Fiumicino begleitet, die nach monatelangem Aufenthalt in einem CIE weder den Grund für ihre Abschiebung noch den für ihre Festnahme kannten. Die immer noch sagten: „Aber ich habe doch nichts Böses getan!“, was ja auch stimmte. Bis zu dem Tag, als sie eingesperrt wurden, hatten sie auf einem Feld geschuftet, in einem Großmarkt, auf einem Baugerüst. Für Straftaten hatten sie beim besten Willen keine Zeit. Genauso wenig wie für die Information, dass der illegale Aufenthalt in Italien ein Straftatbestand ist.
Er hat den Männern in Handschellen den Hintern gewischt und den Schwanz abgeschüttelt, die ja während des zwölfstündigen Fluges auch mal austreten müssen, und die Blicke sind einfach unbeschreiblich, mit denen sie ihn beobachten, wie er sie einerseits in Handschellen hält und sie andererseits mit einer Fürsorge abputzt, die er auch seinen neugeborenen Kindern zukommen lassen würde, wäre dieser Baum nicht gewesen. Blicke, von denen er tatsächlich noch nie jemandem erzählt hat.
Er hat senegalesische Väter gesehen, unschuldige Menschen, die höchstens gefälschte Designertaschen verkauft haben, die ihre Söhne wegen Kokainhandels angezeigt haben. Um sie zurück in den Senegal zu schicken und so aus den schlechten Kreisen loszueisen. Und sich dabei noch das Rückflugticket zu sparen.
Er hat Roma-Mädchen gesehen, die Verstecken spielen. Du nimmst sie fest, bringst sie aufs Präsidium, sie haben keinerlei Ausweispapiere, ganz zu schweigen von einer Geburtsurkunde – sie wissen vielleicht noch, in welchem provisorischen Lager sie zur Welt gekommen sind, aber es ist nie jemand auf die Idee gekommen, sie in ein Melderegister aufzunehmen.
Du bringst sie ins CIE, doch Serbien verweigert ihre Anerkennung, und ohne Identifizierung keine Abschiebung, wie sollst du jemanden in seine Heimat zurückführen, wenn du nicht weißt wohin? Nach höchstens achtzehn Monaten musst du sie gehen lassen, sie tauchen unter, bis ein Kollege sie wieder bei irgendwas ertappt. Dann geht das Ganze von vorne los. Welchen Sinn hat das? Keinen.
Dann gibt es diejenigen, die beim Boarding die Rasierklingen auspacken, welche sie bis dahin im Mund versteckt haben – Araber, sie sind die Einzigen, die ihre eigenen Körper traktieren wie Foltersklaven –, und sich Gesichter, Hände, Bäuche zerschneiden. Also bringst du sie zur Notfallambulanz, und sie verpassen den Flug.
Die aus Ghana, Nigeria oder Togo hingegen kämen nie auf die Idee, sich selbst zu verletzen. Sie beißen, schlagen und prügeln lieber dich. Einmal hatte sich einer in Barozzinos Brust verbissen und ließ einfach nicht mehr los.