Augsburger Allgemeine (Land West)
Das Kribbeln vor dem ersten Kuss
Reportage „Kiss me, Kate“startet auf der Augsburger Freilichtbühne. Das Musical ist Kunst, aber auch Kraftakt. Ein Besuch auf der ungeschminkten Seite des Spektakels.
Zum ersten Mal seit Stunden legt sich so etwas wie Ruhe über das Halbrund. „Wir sind bereit, ich warte nur auf euer Zeichen“, schallt eine Männerstimme aus den Lautsprechern in den milden Sommerabend, über Bühne und Gemäuer hinweg zum stolzen Roten Tor. Ein Geiger am Rand der Spielfläche wippt mit dem rechten Fuß und bewegt seinen Bogen so, als gelte es, auch die letzten Momente der konzentrierten Stille zu zerhacken. Sie dauern an, zwei Sekunden, fünf, zehn. Dann endlich kommt der erste Ton, ein Klavier geleitet einen Mann in orangem Hemd und weißer Weste nach vorne. „Premierenfieber ist ein Gefühl, bei dem dir heiß ist und doch so kühl“, singt er ausdrucksstark in Richtung des Zuschauerraums, wo
Das Musical ist der Start in die FreilichtbühnenSaison
rund 50 Techniker, Sanitäter und Crew-Mitglieder Platz genommen haben. Die zweite Hauptprobe hat begonnen, der letzte Feinschliff beginnt.
Die Freilichtbühnen-Saison in Augsburg startet, und das mit einem Kuss: „Kiss me, Kate“macht an diesem Samstag, 18. Juni, den Auftakt. Elfmal wird das Musical von Cole Portner zu erleben sein, anschließend ab Mitte Juli neunmal das Fugger-Musical „Herz aus Gold“, dazwischen dreimal Carl Orffs „Carmina Burana“. Die Erwartungen sind groß, wie Intendant André Bücker sagt: „Ich bin mir sicher, dass sich unser Publikum, genau wie wir, auf eine unbeschwerte Freilichtbühnen-Saison freut und die Sommerabende am Roten Tor einfach nur genießen will.“Der Vorverkauf laufe insgesamt gut, Tickets seien aber jeweils noch verfügbar. Corona-Hürden sind gefallen, es gibt Platz für 2000 Menschen. Und so ist alles bereitet für rauschende Abende.
„Kiss me, Kate“sollte eigentlich schon vor zwei Jahren aufgeführt werden, die Pandemie und anders Musicals kamen dazwischen. Anfang Mai begannen nun aber die Proben, seitdem greifen viele kleine und große Räder ineinander. Es ist ein gemeinsamer Weg von rund 200 Menschen: neben den Solistinnen und Solisten rund 50 Orchestermusikerinnen und -musiker, 30 Chormitglieder, 18 Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer. Und das sind nur jene, die das Publikum hört und sieht. So wie das Musical Kunst ist, ist es auch ungeschminkter Kraftakt, vor und hinter der Bühne.
Ein Vormittag unter der Woche, kurz nach 10.30 Uhr, Kies knirscht im „Höfle“. Der Vorhof zwischen
Tor und Freilichtbühne ist eine Art Aufenthaltsbereich für alle. Ein schwarz gekleideter Techniker schlurft am Tonhäuschen vorbei in Richtung Bühne, unter einem weißen Pavillon sitzt eine junge Frau auf einer Bierbank und raucht einsam ihre Zigarette. Von Hektik kaum eine Spur, aber der Tag ist ja jung. Es dauert noch bis zu Chorprobe, Robin Goller ist
schon da. Der 24-jährige Regieassistent – gestyltes Haar, Umhängetasche, offenes Hemd – passiert eine Garderobe, aus der knalligbunte Oberteile nach draußen leuchten, und tritt in ein Treppenhaus. Hier beginnt das Herz-Kreislauf-System, das die Freilichtbühne mit Leben füllt.
Oben: eine Maske, eine Toilette, eine Damengarderobe. Nach unten
öffnet sich ein bröckeliger, gewundener Backsteingang, durch den seit bald 100 Jahren die einen Menschen huschen, um die anderen zu unterhalten. Ein bisschen muffig ist es hier, aber charmant und irgendwie passend als Schauplatz für das ungeschminkte Treiben hinter den Kulissen. An den Gang schließt sich links ein Raum mit Requisiten an – auf dem Tisch wartet eine PlastikRotem
festplatte mit Schinken, Traube und Wurst -, rechts huscht Goller ein paar Stufen zum Bühnenraum hoch. Ein paar Darstellerinnen und Darsteller in Alltagsrobe proben gerade das Schrubben mit fiktiven Wischmopps, ein Mann in Funktionskleidung kniet prüfend an der Drehscheibe. Die Bühnenbretter knarzen. Robin Goller ist auf seinem Spielfeld angekommen.
Seit zwei Jahren ist Goller Regieassistent am Staatstheater. Er kommt aus Hof in Franken, anzuhören ist ihm das nicht. Auch durch eine Schneiderlehre, sagt er, sei seine Verbundenheit zum Theater entstanden. „Da kam ich nicht mehr raus.“Er wurde Regieassistent – erst in Gera, dann in Augsburg – und ist als solcher vor allem organisatorische Schnittstelle. Das zeigt sich in vielen kurzen Rückfragen der Crew, ganz haptisch auch im klotzigen Schriftwerk, das er in der Tasche bei sich trägt: im Regiebuch. Dort ist fast alles notiert, was wichtig für die Inszenierung von Bedeutung ist: Positionen und Gänge, Auftritte und Abgänge, Namen und Zuständigkeiten. Bei Goller laufen die Fäden zusammen. Diesmal, bei „Kiss me, Kate“ist er neben all dem auch noch Darsteller, er spielt den Ralph.
Es wird Englisch und Bairisch gesprochen
Und als solcher, geschminkt und mit beige-rot-lachsfarbenem Kostüm, tritt er einem dann am frühen Abend entgegen. Knapp eine Stunde vor der Hauptprobe ist es nun auf dem gesamten Gelände zu spüren, das Kribbeln vor dem ersten Kuss. Es ist ein Spektakel vor dem Spektakel. Das Einstimmen des Orchesters taucht die Freilichtbühne in einen instrumentalen Nebel, durch den mal das mechanische Surren eines Akkuschraubers bricht, mal das Klicken eines Sprechfunkgeräts. In der Maske lassen sich manche hoch konzentriert schminken, während sich eine Tänzerin beim Zöpfeflechten entspannt mit der Bildnerin unterhält. Hier Englisch, da Bairisch, hier Fokus, da Herumalbern. Hier ein Techniker, der hinter der Bühne eilig ein Holzfass per Sackkarre transportiert. Dort, auf einem Schaufensterkopf, eine blonde Perücke als stille Zeugin.
„Es ist fantastisch“, sagt Goller, der schon im März mit konkreten Vorbereitungen auf „Kiss me, Kate“begonnen hat. Jetzt werden all die Ideen konkret. „Diese Dynamik, diese Energie durch das Zusammenspiel – es zieht einen in den Bann.“Nebenan gibt Dirigent Justin Pambianchi seinem Orchester noch ein paar Anweisungen, der Regisseur wünscht sich eine kleine Umstellung. Die Musikerinnen und Musiker, leger gekleidet, blättern in ihren Noten, nicken, ein Geiger ruft schon mal leise „Zugabe“. Die Nachbarin schmunzelt kurz, dann richten sich die Blicke langsam Richtung Bühne.
Es ist Ruhe eingekehrt jetzt. Alle reden leiser, manche gehen auf Zehenspitzen, man hört nur die Trambahn im Hintergrund und das Zwitschern der Vögel. Dann beginnt das Klavier zu spielen.