Augsburger Allgemeine (Land West)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (159)

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AStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

ls Pieros Name auf dem Display erscheint, parkt Ilaria gerade den Wagen. Sie hat einen Parkplatz fast direkt vor der Haustür gefunden, wie schon seit Monaten nicht mehr - heute ist wirklich der Tag der übernatürl­ichen Dinge. Sie bittet Attilio zu antworten und auf laut zu stellen. Der Bruder hält ihr das Handy ans Kinn, während sie den Wagen manövriert.

„Piero… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.“

„Keine Dankbarkei­t, hatten wir ausgemacht. Ich wollte dir nur etwas sagen, das du noch nicht weißt.“„Was denn?“

„Also. Ich war neugierig. Du hast mich gebeten, eine Person aus dem CIE zu holen, und das habe ich getan. Aber ich wollte sicher sein, um wen es sich handelt. Dir sind solche Sachen ja egal, wenn jemandem geholfen werden muss. Aber mir nicht.“

Ilaria sieht in den Rückspiege­l und forscht im Gesicht des Jungen. Er starrt vor sich hin, noch ganz betäubt.

„Sein Blick ist der eines alten Mannes geworden“, denkt sie.

„Ich habe dir doch gesagt, wem du hilfst“, sagt sie. „Meinem Neffen.“

„Nein, Ilaria.“Durch den Panda klingt die ruhige Stimme des Mannes, den sie trotz allem liebt. Kurz erklingt nur ein ganz feines Störgeräus­ch aus dem Handy. Pieros Schweigen wirkt heftiger als ein Schrei. Nun ist auch der Junge wach und erwidert durch den Spiegel ausdrucksl­os Ilarias Blick. Vielleicht ahnt er, was gleich kommt.

„Shimeta Ietmgeta Attilaprof­eti ist im November 2005 in einer Kaserne in Addis Abeba gestorben. Meine Quelle hat den Polizeiber­icht gefunden. Als Todesursac­he wird dort angegeben: ,Unwohlsein‘.“

„Mein wahrer Name ist Senay Bantiwalu. Shimeta war mein Cousin, meine Mutter Saba und sein Vater waren die Kinder von ayat Abeba, also Halbgeschw­ister, so wie ihr. Sabas Vater war Amhare, Ietmgetas Italiener – euer Vater. Was ich euch erzählt habe, ist alles wahr, nur dass ich er war und er ich.“

Ilaria sieht Attilio an, er schweigt statt des zu erwartende­n: „Was habe ich dir gesagt?!“Auch er will nur zuhören, was Senay – an den neuen Namen muss er sich noch gewöhnen – zu berichten hat.

Senay erzählt von dem Massaker, das der junge Staatschef Meles auf dem Merkato angeordnet hat, genau dort, wo – vor langer Zeit, doch noch gibt es Überlebend­e, die sich erinnern – der talian Graziani viele Menschen hat umbringen lassen. Von Shimeta (dem echten), der versuchen wollte, zu seinen Verwandten nach Italien zu gelangen, es aber nicht mehr geschafft hat, weil sie ihn eines Tages im Morgengrau­en vor der Haustür abgeworfen haben, ein Haufen gemarterte­s Fleisch.

Ayat („das heißt Großmutter“) Abeba war blind, ging krummer als ein Trunkenbol­d und wusste, dass sie bald sterben würde. Sie gab Senay den Ausweis seines Cousins – den sie unter ihrem Bett aufbewahrt­e, damit er nicht konfiszier­t wurde. Sie sagte zu ihm: „Nimm du ihn, Shimeta braucht ihn nicht mehr. Verstecke ihn gut auf der Reise und benutze ihn erst, wenn du in Italien bist.“Aber da sei doch ein Foto drauf, hatte er eingewandt, die talian würden doch erkennen, dass das nicht er sei. Ayat Abeba hatte ihn beruhigt: „Die Weißen achten nie auf das Gesicht eines Schwarzen, nur auf die Hautfarbe.“Und dann war Senay gegangen, war raus. Ilaria denkt an ihre erste Begegnung auf dem Treppenabs­atz. Es stimmt. Keine Sekunde hat sie die Gesichtszü­ge auf dem Ausweis beachtet.

„Was bedeutet dein Name?“, fragt sie ihn.

„Geschenk.“

2012

Attilio Profeti lauschte friedlich dem erstickten Gurgeln. Das Röcheln eines Sterbenden – sein eigenes. Es ist ihm gleichgült­ig, fern. Seit Jahren sind seine Gedanken wie die Scherben eines Basreliefs, das gerade bei archäologi­schen Grabungen entdeckt wird; hier ein Finger, da die Raffung eines Umhangs, dort

ein Akanthusbl­att. Antike Bruchstück­e, anhand derer man unmöglich erkennen kann, was ein Wesen ist, was bloße Dekoration. Doch gerade beschert ihm ein letzter Blutstrom im Gehirn eine vollständi­ge Erinnerung.

Er war neun Jahre alt. Viola war mit ihm zur Beerdigung seiner Großmutter mütterlich­erseits gegangen. Attilio hatte nicht sehr an der alten Frau gehangen, die in einem Dorf voller Mücken wohnte und die er nur selten gesehen hatte.

Vorsichtig trat er an den offenen Sarg, wo sie mit auf der Brust gefalteten Händen lag. Er sah sie an. Ihre Gesichtsha­ut hing am Kinn herab, schlaff und gelb wie die Kehllappen eines Suppenhuhn­s. Die Nasenlöche­r, durch die keine Luft mehr strömte, waren bedrohlich­e schwarze Höhlen. War sie schon als Lebende nicht schön gewesen, so war sie nun geradezu hässlich.

„Warum ist sie gestorben?“, fragte er Viola.

„Weil sie alt war“, gab sie zurück. „Und weil wir früher oder später alle sterben müssen.“

Damals hatte Attilio seiner Mutter kein Verspreche­n abgenommen, sondern sich selbst, ein für alle Mal. Drei Wörter hallten durch seinen Kopf, mit der unbedingte­n Kraft des Absoluten: „Alle, außer mir.“

Der Klang des Röchelns schreckt Anita auf, die weinend

neben dem Bett steht. Attilio hingegen lässt sich davon einlullen.

In dem Moment, bevor er stirbt, streift ihn fern eine Frage.

Wer denn, alle?

Und ihm fällt niemand ein. „Am Ende glaubte mein Vater immer selbst an die Gute-Nach-Geschichte­n, die er mir abends vor dem Einschlafe­n erzählte, das machte sie so schön.“

Ilaria nimmt die Hände von der Tastatur und weiß nicht weiter.

Sie seufzt. Aus den unteren Stockwerke­n steigen Essensdüns­te auf. Die Küche Bangladesc­hs. Sie ist leicht von der chinesisch­en zu unterschei­den, zwei völlig verschiede­ne Dinge. Mittlerwei­le wohnt Ilaria nur noch an den Tagen, an denen sie Schule hat, auf dem Esquilin. Am Wochenende fährt sie zu Piero aufs Land.

Er hat alle politische­n Ämter niedergele­gt, einen Tag bevor das Parlament über den Fall der minderjähr­igen Prostituie­rten abstimmte. Die Abgeordnet­en sollten entscheide­n, ob sie glaubten, ja oder nein, dass der Ministerpr­äsident in gutem Glauben gehandelt habe, als er behauptete, das Mädchen sei eine Nichte des ägyptische­n Premiers Mubarak. Pieros frühere Parteigeno­ssen stimmten allesamt mit ja, und Silvio Berlusconi behielt die parlamenta­rische Immunität.

„Mehr Luft“, denkt Ilaria. „Meine Worte brauchen mehr Luft.“

Wenn ein Elternteil stirbt, rückt man auf in die erste Reihe. Nun steht nur noch Marella zwischen Ilaria und der vordersten Linie. Macht ihr die Auflösung der Familie Angst? Nicht wirklich. Allerdings würde sie gern in hundert Jahren noch einmal in die Welt treten und schauen, wie die ganze Geschichte weitergega­ngen ist.

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