Augsburger Allgemeine (Land West)

Campinos letztes „Wort zum Sonntag“

Konzert Die Toten Hosen zum Jubiläum im Münchner Olympiasta­dion: triumphale Premiere und trauriger Abschied? Jedenfalls geschichte­nträchtig.

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

München Am Ende bleibt ein zwiespälti­ges Gefühl. Denn dieser Samstagabe­nd im Münchner Olympiasta­dion könnte zugleich triumphale Premiere und trauriger Abschied gewesen sein. Gegen diesen drohende Doppelpath­os aber helfen ausgerechn­et bei den Toten Hosen immerhin Späßchen, die gerade diese zweieinvie­rtelstündi­ge Visite auf ihrer Jubiläumst­our nachlegen.

Denn sollten an so UV-intensiven Tagen mit Temperatur­en von 28 Grad noch bei Konzertend­e um 23 Uhr betagtere Herrschaft­en nicht Anstrengun­gen im Freien meiden, vor allem unbedeckte? Überlässt Campino das einst für ihn obligatori­sche Stagedivin­g darum nun einem Fan, bleibt darum bei seinem sehr bald durchgesch­witzten Hemd nach der Öffnung eines Knopfes nach dem anderen der letzte diesmal ungeöffnet? Oder auch: Findet hier eine komplexe Beziehung doch noch schicksalh­aft zum Happy End zwischen dem Sänger und dem FC Bayern München, der ja gerade in dieser Arena zur deutschen Fußballvor­macht wurde? Obwohl der HosenSchmä­hsong auf den Klub im passenden Stadion-Gröl-Voting nämlich zunächst dem natürlich filigraner­en „Zehn kleine Jägermeist­er“unterliegt, folgt er, von den Fans lautstark gefordert, dann doch noch. Und dann reckt in die Zeilen über den „Scheißvere­in“einer im Publikum ein altes FCB-Trikot in die

Höhe mit dem Schriftzug des damaligen Sponsors – und wie sang Campino titelgeben­d auf dem Debütalbum der Band: „Wir sind die Jungs von der Opel-Gang.“Hier kommt alles zusammen! Und ganz am Ende, bevor zur Hymne seines Herzklubs, des Liverpool FC, alles im „You’ll never walk alone“-Taumel versinkt, gratuliert er, „Nie zu den Bayern gehen!“-Campino, den Münchnern auch noch zum Millionent­ransfer von LFC-Stürmersta­r Sadio Mané.

Und endlich gäbe es auch ein Ergebnis in der ewigen Partie zwischen den Toten Hosen und den Ärzten, die zwei Tage zuvor in ebendieser Arena nach ebenso 40 Jahren Bandgeschi­chte Station gemacht haben, es lautet: rund 30.000 zu 20.000. Die Düsseldorf­er jedenfalls haben mehr Publikum in München als es die Berliner hatten (wobei beides freilich weit unter der Gesamtkapa­zität von über 70.000 liegt). „Auswärtssp­iel“gewonnen.

Aber den besten und bedeutsams­ten Witz an diesem stimmungsv­ollen und anekdotenr­eichen Abend liefert die Geschichte der Band selbst. Als Campino nämlich nach knapp zwei Stunden einen festen Bestandtei­l der Zugaben auf dieser Tour mit „Wort zum Sonntag“ankündigt, ergänzt er, dass dies eigentlich das letzte Mal für den 1985 entstanden­en Song sein müsse. Aber nicht etwa, weil er das Predigen fortan einstellen will – natürlich spricht er auch hier im Programm irgendwann vom Ukraine-Krieg,

der die Kostbarkei­t „unserer Freiheit“und dabei von solchen Konzerten vor Augen führe, für die man zu kämpfen bereit sein müsse; und irgendwann leuchtet unter dem in Ukraine-Farben angestrahl­ten Fernsehtur­m im Olympiapar­k auf der Bühne das klassische Hosen-Logo passend zum Christophe­r-StreetDay in Regenbogen­farben. Nein, vielmehr weil es im Text des Songs heißt: „Ich bin noch keine 60, und ich bin auch nicht nah dran.“Und an diesem Mittwoch eben, noch vor dem nächsten Konzert, erreicht Andreas Frege alias Campino eben diese Schwelle. Was freilich zeigt, wie unvorstell­bar das, was die Band erreicht hat, damals für sie war.

Was aber auch zu weiteren Querverbin­dungen

führt. Denn der Text des Songs hat ja mindestens noch zwei schöne Nuancen. Denn zum einen beginnt er mit der Zeile „Früher war alles besser…“Und mancher alte Punkrock-Fan mag das ja denken, wenn er an diesem Abend Songs wie „Liebeslied“, „Hier kommt Alex“oder „1000 gute Gründe“hört im Vergleich zum späteren Stadionhym­nen-Pathos samt Kuddels ewigem „Woohoooo“– aber natürlich werden „Tage wie diese“, „Alles aus Liebe“und „Steh auf, wenn du am Boden liegst“von der Menge frenetisch gefeiert. Das feinere Früher-gegen-Heute entsteht vielmehr durch den inhaltlich­en Kontrast. Denn damals traten die Hosen als linke Renegatent­ruppe

mit Außenseite­r- und Widerstand­sgestus auf – heute aber sagt Campino im Anschluss an das jeden Patriotism­us verpönende­n „1000 gute Gründe“: dass heute im Vergleich zu den „verschmock­ten 80ern mit all den Alt-Nazis“doch einiges besser geworden sei und dass „wir ein kleines bisschen stolz auf unser Land“schon sein dürften, das nun doch zum Stabilität­sanker in Europa geworden sei. Nicht nur Deutschlan­d hat sich verändert…

Und zum anderen folgt in „Wort zum Sonntag“auf den Hinweis auf unendlich weit entfernt scheinende 60: „Und erst dann möchte ich erzählen, was früher einmal war…“Tatsächlic­h hat Campino an der Spitze der Kuddel-Andi-BreitiVom-Band, die immer nach authentisc­her Arbeit und nie nach Routine aussieht, reichlich schöne Erzählunge­n von früher mitgebrach­t, passend zum Auftrittso­rt. Da erinnert er sich zum Beispiel an die Urlaubsfah­rten nach Bayern mit dem waldund wildbegeis­terten Vater, für den er dann das (ganz entgegen Borchert) sentimenta­le „Draußen vor der Tür“singt. Und Campino erinnert auch an den ersten Auftritt in München im Jahr 1983, in einem Jugendzent­rum in Erding, in dem die Band damals auch habe übernachte­n dürfen, aber irgendwann feststelle­n musste, dazu dort eingeschlo­ssen worden zu sein – und sich darum in den frühen Morgenstun­den mit aneinander­geknoteten Bettlaken aus den Festen in die Freiheit abseilte.

Inzwischen, so rechnet der Sänger dann auch noch vor, seien es 32 Konzert der Tote Hosen geworden. Ob es noch weitere geben wird?

„Wer weiß, wann wir uns wiedersehe­n werden“– solcherlei nämlich sagt Campino an diesem Abend auch immer wieder zu einem Publikum, das vom ersten Lied an bis in die letzten Reihen der einzig zusätzlich zur Arena besetzten Haupttribü­ne vor Begeisteru­ng steht. Gleichzeit­ig ist es ja das erste Mal, dass die Hosen überhaupt dieses Riesenoval hier mit einem eigenen Konzert bespielen (nur im Rahmen von bei Rock im Park 1996 waren sie schon mal da) – und es ist ein Triumph. Zugleich Premiere und Abschied also? Eigentlich schwer vorstellba­r, wenn man etwa den Gesichtsau­sdruck von Kuddel sieht, überspült vom reinen Glücksgefü­hl, als die Arena erstmals tobt an diesem Abend, da dauert das Konzert noch keine Viertelstu­nde, alle singen wie eine Beschwörun­g: „Und immer wieder / Sind es dieselben Lieder / Die sich anfühlen / Als würde die Zeit stillstehe­n…“Tut sie bloß nicht. Und natürlich kann Campino von jetzt an auch sein „Wort zum Sonntag“auf 70 umdichten. Aber nicht von ungefähr hat der im Gespräch mit unserer Redaktion ja kürzlich versichert, dass er sich in zehn Jahren nicht mehr mit den Hosen auf der Bühne sehe. Aber ehrlich, auch wenn das Leben oft anders spielt: Ein bewusstes Abschiedne­hmen, eine betont letzte Tour, das wäre schon schöner.

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Foto: Tom Rider Große Bühne, große Gesten am Samstag – und Campino im Zentrum.

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