Augsburger Allgemeine (Land West)

Die chinesisch­e Mauer

Pandemie

- VON FABIAN KRETSCHMER (mit dpa)

Der scheinbar unaufhalts­ame Aufstieg des Landes ist erst einmal gebremst. Die Europäisch­e Handelskam­mer fordert nun einen Kurswechse­l bei der rigiden Corona-Politik. Doch auch der Frust innerhalb der Bevölkerun­g wächst und setzt Peking unter Druck.

Kritik an der Corona-Politik der Regierung ist in China schwierig. Wie überhaupt Kritik an der Regierung schwierig ist. Die Vertretung der europäisch­en Wirtschaft in China hat nun trotzdem deutliche Worte gefunden. Denn die Situation ist äußerst angespannt und die Aussichten bestenfall­s vage. China müsse den Unternehme­n die Angst nehmen und „mit einem klaren Plan Vertrauen zurückgewi­nnen“, sagte Bettina Schön-Behanzin, Vizepräsid­entin der EU-Handelskam­mer, am Montag bei der Vorstellun­g einer Stimmungsu­mfrage unter Mitgliedsf­irmen. Mit Massentest­s und Lockdowns könne die Lage nicht unter Kontrolle gebracht werden.

Die chinesisch­e Wirtschaft war wegen der strikten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s in der ersten Jahreshälf­te unter Druck geraten. Mehrere Millionen Menschen waren von Ausgangssp­erren betroffen. Die Wirtschaft­smetropole Shanghai befand sich seit Anfang April für zwei Monate in einem Komplett-Lockdown. Zwar hat sich die Lage leicht gebessert, jedoch herrscht weiter große Unsicherhe­it. „China muss seine Grenzen öffnen. Es verfügt über alle Mittel für ein großartige­s Comeback“, so SchönBehan­zin. Ausgangssp­erren, erhebliche Beschränku­ngen bei der Einreise und andere strenge Maßnahmen belasteten dagegen das Geschäft schwer.

Drei Viertel der Kammermitg­lieder berichtete­n, dass die strengeren Eindämmung­smaßnahmen ihren Betrieb negativ beeinfluss­t hätten. 92 Prozent klagten über Lieferkett­en-Probleme, die etwa durch Hafenschli­eßungen und steigende Frachtkost­en verursacht wurden. 23 Prozent der Befragten gaben an, darüber nachzudenk­en, neue Investitio­nen auf Eis zu legen. Eine große Herausford­erung ist es nach Aussage von Schön-Behanzin zudem, neues Personal aus Europa zu gewinnen. „Es ist schwierig, jemanden zu finden, der noch nach China reisen will.“Lockdowns, lange Quarantäne­zeiten sowie immer weniger verfügbare Flüge hätten einen wahren „Exodus“ausgelöst.

Inzwischen gilt das China-Geschäft vielen Managern offenbar nicht mehr als große Verheißung, sondern als große Gefahr. Das wird auch zunehmend zur Belastung für die Führung in Peking. Denn der wirtschaft­liche Aufschwung gilt als Garant ihrer Herrschaft. In einer Art indirektem Gesellscha­ftsvertrag

hat die Bevölkerun­g seit den 80er Jahren ihr politische­s Mitsprache­recht weitestgeh­end abgegeben. Die Menschen erwarten aber im Gegenzug eine kompetente Regierung, die für materielle­n Wohlstand sorgt. Das hat die Kommunisti­sche Partei auch höchst erfolgreic­h getan: Von Beginn der Reformpoli­tik 1978 bis hin zu Xi Jinpings Machtübern­ahme vor etwa zehn Jahren stieg das Bruttoinla­ndsprodukt um mehr als das 60-Fache. Rund 800 Millionen Menschen sind extremer Armut

entflohen. Doch die Pandemie und die Strategie zu ihrer Bekämpfung haben diese Entwicklun­g nachhaltig ins Stocken gebracht.

Die Weltbank geht zwar von einer Erholung der chinesisch­en Wirtschaft in der zweiten Jahreshälf­te aus. Doch die Wachstumsp­rognose wurde auf 4,3 Prozent gedrosselt – für die Volksrepub­lik ein enttäusche­nder Wert. Und mit jedem weiteren flächendec­kenden Corona-Ausbruch wird er weiter nach unten korrigiert.

Dazu kommt: 10,7 Millionen Universitä­tsabsolven­tinnen und -absolvente­n strömen allein dieses Jahr auf den chinesisch­en Arbeitsmar­kt. Die kriselnde Volkswirts­chaft kann ihnen kaum mehr genügend qualifizie­rte Jobs bieten. Schon jetzt liegt die Jugendarbe­itslosigke­it mit 18,4 Prozent auf einem Rekordwert. Bis zum Spätsommer könnte sie auf 23 Prozent ansteigen. Für die auf Stabilität bedachte Regierung ist dies eine tickende Zeitbombe. So kommt zum Frust über die radikalen Covid-Maßnahmen auch noch die Sorge vor dem sozialen Abstieg.

In China gibt es längst keine unabhängig­en Medien mehr und auch die Online-Plattforme­n werden stark zensiert. Doch immer wieder flammen vereinzelt Proteste auf, zuletzt bei einem bekannten Kleidermar­kt in Shanghai: Dort zogen hunderte Händler auf die Straße, um für eine sechsmonat­ige Mietbefrei­ung zu protestier­en. Die meisten von ihnen mussten nahezu drei Monate ihre Geschäfte schließen, ohne staatliche Hilfen zu erhalten. Die Polizei löste den Protest zwar rasch auf, doch etliche Videos wurden auf den sozialen Medien hochgelade­n.

Die nach wie vor geltende „Null Covid“-Politik ist derzeit die größte Bremse für eine Rückkehr zur wirtschaft­lichen Normalität. Auch die Infrastruk­tur zur Aufrechter­haltung des fragilen Alltags ist kostspieli­g: Seit Beginn der Pandemie wurden in China fast zwölf Milliarden PCRTests durchgefüh­rt, die meisten davon seit Beginn des Jahres. In den Metropolen des Landes werden alle Einwohner regelmäßig getestet. Allein in Shanghai wurden dafür 15.000 Teststatio­nen errichtet, in Peking über 9000.

Doch die Kosten für die Maßnahmen können von den hoch verschulde­ten Lokalregie­rungen nicht mehr ohne Weiteres geschulter­t werden. Angestellt­e von Staatsunte­rnehmen berichten regelmäßig, dass sie dazu aufgeforde­rt werden, Teile ihres Gehalts zur Corona-Prävention an die Seuchensch­utzbehörde zu spenden. Sie unterstütz­en so gezwungene­rmaßen eine Politik, die gerade in den großen Städten immer weniger Leute befürworte­n. Wegen sinkender Steuereinn­ahmen ist das Haushaltsd­efizit in den ersten fünf Monaten des Jahres bereits auf 2,9 Billionen Yuan angestiege­n, umgerechne­t über 140 Milliarden Euro. Das Minus liegt damit im direkten Vergleich höher als im Krisenjahr 2020, während dem Chinas Volkswirts­chaft zu Beginn des Jahres vollständi­g zum Erliegen kam.

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Foto: Mark Schiefelbe­in, dpa Trotz großer wirtschaft­licher Schwierigk­eiten hält die chinesisch­e Führung weiter an ihrer strikten Corona‰Politik fest.

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