Augsburger Allgemeine (Land West)
Kiebitzen am Neusiedler See
Österreich In Mitteleuropa ist der Steppensee ein einzigartiges Tierparadies und Unesco-Welterbe. Allerdings setzen Klimawandel und Energiewende diesem Idyll zu. Mit ein paar Tricks und den richtigen Führern aber kann man noch seltene Entdeckungen machen.
Es gibt Tageszeiten, die will man lieber nicht kennen. Fünf Uhr morgens bei Wind und Wetter, mal ehrlich, das ist so ein Fall. Ohne Frühstück fahren wir im Morgengrauen auf einer gottverlassenen Landstraße vom Neusiedler See in Richtung Tadten, ringsum Wiesen und Felder. Plötzlich taucht am Straßenrand ein hölzerner Turm auf, ähnlich wie ein Jägerstand im Wald, nur größer. Zahlreiche Schaulustige warten auf etwas, das man nur sehr selten zu sehen bekommt: den spektakulären Balztanz der Großtrappen. Sie zählen zu den größten flugfähigen Vögeln weltweit. Im Niedermoor, dem Hanság, haben sie eines ihrer letzten Rückzugsgebiete.
Nicht weit weg vom Hanság liegt der Neusiedler See, Unesco-Welterbe und eine der ungewöhnlichsten und artenreichsten Gegenden Österreichs mit einem extrem trockenen, sonnigen „pannonischen“Klima. Vor 13.000 Jahren formte sich durch tektonische Einbrüche das Seebecken. Heute ist der See rund 320 Quadratkilometer groß, erstreckt sich ins Burgenland und ins benachbarte Ungarn und gilt als Hochburg für Ökotouristen, Naturbegeisterte, Radler und Weinfreunde. Was auf den ersten Blick auffällt: Ungewöhnlich flach ist es hier zwischen den letzten Ausläufern der Alpen und der pannonischen Tiefebene. Weit und breit keine Berge, dafür ein Steppensee, der genauso gut in Asien liegen könnte. Wasser, Gras, Schilf, Sand und seltsame krustig-weiße Flecken – die „Salzlacken“– so weit das Auge reicht.
Lukas Wendler ist vor drei Jahren aus dem Raum Wien nach Illmitz am Neusiedler See gezogen. „Man lernt den Seewinkel lieben, wenn man ihn kennt, und ich lerne jeden Tag etwas dazu“, sagt er. Woran denkt er, wenn er typische Geräusche beschreiben soll? „Der Wind und die Graugänse sind allgegenwärtig, aber auch die Nachtigall.“Graugänse gibt es so viele, dass am Straßenrand eigene Verkehrsschilder stehen. Sie warnen Autofahrer vor Gänsefamilien, die über die Fahrbahn watscheln. Die Graugans ist auch das Logo-Tier des grenzübergreifenden Nationalparks „Neusiedler See – Seewinkel“, einem Hotspot der Biodiversität mit rund 350 Vogelarten, Wildpferden, Steppenrindern, Wasserbüffeln und einer alten Rasse von weißen Eseln mit blauen Augen.
Wendler ist Ranger in diesem Schutzgebiet auf insgesamt 300 Quadratkilometern mit einem hochsensiblen Ökosystem: Wasser, Böden, Pflanzen und Tiere greifen wie in einem Mosaik mit landwirtschaft
lichen Wiesen, Äckern und Weingärten ineinander. „Im Unterschied zu anderen österreichischen Nationalparks schützen wir auch historische Kulturlandschaften“, sagt er. Entstanden ist eine Vielzahl von spezialisierten Lebensgemeinschaften, die voneinander profitieren. Gefährlich wird es, wenn ein Teil des Ganzen ausfällt.
Touristen bekommen von den Problemen meist wenig mit. Im Infozentrum des Nationalparks in Illmitz herrscht Hochbetrieb. Dort starten viele geführte Touren. Wir folgen Rangerin Sabine Höfler auf den hohen Sandwall am Ostufer des Neusiedler Sees, den Seedamm, um nach besonderen Weidetieren Ausschau zu halten: den PrzewalskiPferden. Mit ihrem sandfarbenen Fell und der kurzen schwarzen Mähne passen sie perfekt in die Szenerie, die an eine Mischung aus Nordseestrand und mongolische Steppe erinnert. Wir haben Glück und erspähen die Herde am Wanderweg hinter einem niedrigen Zaun. Die Tiere haben uns gewittert und halten instinktiv Abstand. „Manchmal brechen sie aus, aber wir fangen sie immer wieder ein“, sagt die junge Rangerin mit einem Augenzwinkern.
Das verfilzte alte Gras wegfres
damit freie Flächen für seltene Pflanzen wie Kalisalzkraut oder Sandwegerich bleiben, das ist der Job der Wildpferde am Neusiedler See. Ursprünglich waren sie Teil eines europaweit koordinierten Nachzucht-Programms. Denn in ihrer ursprünglichen Heimat waren sie ausgestorben. Durch Auswilderungen hat sich die Population in der Mongolei erholt. Die rund ein Dutzend Wildpferde auf dem Seedamm sind jetzt im Hauptberuf Landschaftspfleger. Und nicht nur sie.
Typisch für den Seewinkel sind die jahrhundertealten Hutweiden. Sie heißen so, weil Hirten die Herden hüteten und durch die Steppe begleiteten. Ohne Weidetiere würden die Flächen mit Büschen zuwachsen. Auch mit dem wuchernden Schilfgürtel des Neusiedler Sees gäbe es Probleme. Deshalb hält der Nationalpark große Herden von Graurindern und Wasserbüffeln.
Die Büffel seien im Zuge der Eroberungen der Osmanen als Lasttiere ins Karpatenbecken gekommen und damit nach Ungarn und an den Neusiedler See, weiß Nationalparkexperte Alois Lang. Die stämmigen schwarzen Tiere mit dicken Köpfen und halbrunden Hörnern zogen früher den Pflug, oder sie schleppten Steine zum Bau der bäuerlichen lang
gezogenen Streckhöfe, wie sie heute im Freilichtmuseum Mönchhof zu sehen sind. Die Wasserbüffel stapfen nun am Ufer des Neusiedler Sees durch eine Wildnis aus Wasser, Schlamm und Schilf. Sie fressen die harten, scharfen Halme weg. Zwar ist die zweitgrößte zusammenhängende Schilffläche Europas mit 180 Quadratkilometern ein wichtiger Lebensraum. Trotzdem soll sie sich nicht zu sehr ausbreiten. Im hohen Röhricht sind die Wasserbüffel und viele kleinere Tiere nicht leicht zu entdecken. Alois Lang hat einen Tipp für uns: „Das Wichtigste ist, dass man Zeit hat, ein Fernglas und ein bisschen Basiswissen.“
Einfacher ist es mit den Graurindern, einer seltenen historischen Nutztierrasse. In Zeiten, als es noch keine Kühlschränke oder Konservenbüchsen gab, wurden sie als Fleischreserve aus der Puszta bis nach Wien, Augsburg und Nürnberg getrieben. Heute sind die Riesenkühe lebende Rasenmäher im Nationalpark. Gute Chancen, sie zu Gesicht zu bekommen, hat man am Abend.
Dann wird es ruhig um die Beobachtungshütte nahe dem Ort Apetlon. Wir sind geschützt, der Blick auf die Weideflächen ist frei. Mehr als 200 Graurinder mit großen spitsen,
zen Hörnern ziehen im Schritttempo durch die weite Landschaft in Ocker und Brauntönen. Es ist eine Stimmung fast wie in der afrikanischen Serengeti.
Einmalig im europäischen Binnenland ist einer der extremsten Lebensräume im Nationalpark: die Salzlacken. Die Tümpel zwischen dem Ostufer des Neusiedler Sees und dem Hanság sind ein Überbleibsel
der Eiszeit. Je nach Niederschlag und Verdunstung trocknen sie ganz oder teilweise aus. Salze gelangen an die Oberfläche. Es bildet sich Sodaschnee, den die Seewinkler früher zum Waschen nutzten. Doch intakte Salzlacken gibt es immer weniger. Früher wurden rund 120 gezählt, heute sind es nur noch 45. Im Zuge des Klimawandels und der Entwässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen seien über 70 Prozent der Tümpel verschwunden, sagt Ranger Wendler. „Eine Lacke ist noch intakt.“Die anderen bräuchten dringend Hilfe.
Nationalpark-Experte Lang hofft mit Blick auf die gefährdeten Salzlacken auf ein Projekt der EU. Es soll helfen, die Wasserbewirtschaftung der Bauern besser zu steuern und den Grundwasserstand zu stabilisieren. Davon könnten nicht nur Landwirte, sondern auch örtliche Weingüter wie das der Familie Velich profitieren. Das spezielle Mikroklima im Seewinkel sei besonders für den Süßwein wichtig, sagen die Winzer. Der Pilz, den die Trauben zum Reifen brauchen, liebt ein feuchtes Klima, das auch mit den Salzlacken zusammenhängt.
See und Lacken sind mit ihrer einzigartigen Vogelwelt ein Hotspot für „Bird Watcher“. Viele sind professionell mit kostspieligen Ferngläsern und Spektiven ausgestattet, um seltene Watvögel, Reiher und Löffler zu beobachten, oder auch Kiebitze. Einer liegt mit seiner Kamera und einem XXLObjektiv der Länge nach im Schlamm. Er will wohl das Foto des Jahres schießen.
Andere Pläne haben die beiden Jungen Linus aus Salzburg und Philip aus Linz. Sie wollen unbedingt das „Bird Experience Race“im Nationalpark gewinnen, einen Wettbewerb, bei dem es darum geht, innerhalb von vier Stunden möglichst viele Vogelarten zu entdecken. „Für uns ist das hier das beste Bird-Watcher-Gebiet in Österreich“, sagen sie strahlend über ihren Erfolg.
Zurück zum Aussichtsturm im Niedermoor Hanság. Von dort hat man die Großtrappen gut im Blick, wenn sie auf der Wiese zur Hochform auflaufen. Die mächtigen rotbraunen Hähne plustern sich bei der Brautschau gefühlt zu doppelter Größe auf. Sie verdrehen ihre Flügel, klappen den Schwanz auf den Rücken und den Kopf nach hinten. Die weißen „Unterhosen“im Federkleid kommen zum Vorschein. Am Ende sieht es so aus, als ob Schneehaufen in der Wiese liegen. Manchmal hört man ein leises „Tock“. Es ist ein stiller, berührender Anblick.
Am Horizont sieht man, warum Großtrappen zu einer bedrohten Art geworden sind: Dort drehen sich hunderte Windräder. Sie können für die tief fliegenden Vögeln tödlich sein, ebenso Zusammenstöße mit Stromleitungen. Im Schutzgebiet Waasen-Hanság wurden rund zwei Kilometer Mittelspannungsleitungen unter die Erde verlegt. Auch beim Bau neuer Windräder werde auf der Parndorfer Heide nun auf die seltenen Vögel Rücksicht genommen, erzählt die Rangerin.
Resultat: Von rund 50 Tieren ist die Population auf immerhin 500 angewachsen. Vorerst sind die Großtrappen gerettet.
Wer die meisten Vogelarten im Dickicht ausmacht