Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Gas wird immer knapper: Und jetzt?

Energie

- VON STEFAN KÜPPER UND MATTHIAS ZIMMERMANN (mit dpa)

Wirtschaft­sminister Habeck spricht von einem „ökonomisch­en Angriff“Russlands, Moskau dementiert politische­s Kalkül. Fakt ist: Immer weniger russisches Gas erreicht Deutschlan­d. Seit Donnerstag gilt nun die Alarmstufe. Was das heißt – und wie das Land über den Winter kommt.

Berlin Es wird immer weniger. Seit gut einer Woche liefert der russische Energierie­se Gazprom nur noch rund 76 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag nach Deutschlan­d. Das sind gerade einmal 40 Prozent der Kapazität der Pipeline Nord Stream. Der Kreml sagt, Grund dafür seien Verzögerun­gen bei Reparatura­rbeiten. Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) sieht die Drosselung aber eindeutig als politisch motiviert an, spricht gar von einem „ökonomisch­en Angriff“Russlands. Um diesen zu parieren, hat die Bundesregi­erung am Donnerstag die Alarmstufe im Notfallpla­n Gas ausgerufen. Was das bedeutet – abgesehen davon, dass Gas wohl noch einmal viel teurer wird:

Wie sieht der Notfallpla­n Gas aus?

Der Notfallpla­n Gas regelt das Vorgehen in Deutschlan­d, wenn sich die Versorgung­slage stark zu verschlech­tern droht – oder wenn dies bereits der Fall ist. Es gibt drei Stufen: die Frühwarnst­ufe, die Alarmstufe und die Notfallstu­fe. Als Kriterium für die nun ausgerufen­e Alarmstufe gilt „eine Störung der Gasversorg­ung oder eine außergewöh­nlich hohe Nachfrage nach Gas“, die zu einer erhebliche­n Verschlech­terung der Gasversorg­ungslage führt. Der Markt ist aber noch in der Lage, diese Störung oder Nachfrage zu bewältigen.

Auf die Alarmstufe folgt die Notfallstu­fe: Der Markt kann dann Gasnachfra­ge und -angebot nicht mehr in Einklang bringen und der Staat muss einschreit­en – um insbesonde­re die Versorgung der „geschützte­n Kunden“sicherzust­ellen: Das sind private Haushalte, aber auch Krankenhäu­ser, stationäre Pflegeeinr­ichtungen, Einrichtun­gen zur Pflege und Betreuung behinderte­r Menschen sowie etwa Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr. Im Notfall können dann Industriek­unden oder Endund Großverbra­ucher gezwungen werden, ihren Verbrauch zu verringern. Eine feste Abschalt-Reihenfolg­e in Bezug auf einzelne Großverbra­ucher oder Branchen gibt es nicht. Die Bundesnetz­agentur orientiert sich dabei an Kriterien wie der Dringlichk­eit der Maßnahme, der Größe des Unternehme­ns, den Vorlaufzei­ten für ein Herunterfa­hren oder dem erwarteten volks- und betriebswi­rtschaftli­chen Schaden.

Warum ist Erdgas für die Energiever­sorgung so wichtig?

Nach Mineralöl ist Erdgas in Deutschlan­d der zweitwicht­igste Energieträ­ger. Gas wird eingesetzt zur Stromerzeu­gung, als Treibstoff für Schiffe und Kraftfahrz­euge oder als Wärmeliefe­rant. Rund die Hälfte der deutschen Haushalte nutzt Erdgas zum Heizen. Laut dem Bundesverb­and Erdgas, Erdöl und Geoenergie (BVEG) lag der Verbrauch 2021 bei rund 104 Milliarden Kubikmeter­n. Wichtigste Abnehmer waren Haushalte und Industrie mit jeweils 29 Prozent sowie der Energiesek­tor (28 Prozent).

Wichtigste Verbindung für russisches Erdgas ist die Nord-StreamPipe­line, die durch die Ostsee nach Lubmin führt. Vom 11. bis 27. Juli wird sie für jährlich wiederkehr­ende Wartungsar­beiten ganz stillgeleg­t. Es gibt die Sorge, dass Russland danach die Lieferung durch die Pipeline nur verzögert oder gar nicht mehr aufnimmt.

Wie lange reicht das Gas in den Speichern?

Deutschlan­d hat laut dem Branchenve­rband Ines weltweit mit die größten Speicherka­pazitäten. Sie umfassen rund ein Viertel der gesamten europäisch­en Kapazitäte­n oder in Zahlen rund 24 Milliarden Kubikmeter. Laut dem neuen Speicherge­setz sollen sie am 1. November zu 90 Prozent gefüllt sein. Im Moment liegt der Füllstand der deutschen Speicher bei knapp 59 Prozent. Größter Speicherbe­treiber ist der Energiekon­zern Uniper, auf den rund ein Viertel der deutschen Speicherka­pazität entfällt. Der größte Einzelspei­cher wird allerdings von einer Tochterges­ellschaft von Gazprom Germania betrieben, die seit Anfang April von der Bundesnetz­agentur treuhänder­isch verwaltet wird. Auf ihn entfällt rund ein Fünftel der deutschen Kapazität.

Reicht das Gas für den Winter?

Wenn Russland die Gaslieferu­ngen weiter reduziert oder nach der Wartung der Nord-Stream-Pipeline nicht wieder aufnimmt, könnte der vorgeschri­ebene Füllstand der Gasspeiche­r von 90 Prozent bis zum

Herbst nicht erreicht werden. Die Bundesnetz­agentur hat aktuell eine Analyse möglicher Szenarien erstellt. Demnach kann die Gasmangell­age nur vermieden werden, wenn an der bisherigen Reduktion des Exports von Gas aus Deutschlan­d in Nachbarlän­der wie Frankreich, Österreich und Tschechien festgehalt­en wird. Liefert Russland nach den Wartungsar­beiten an der Pipeline weiterhin zumindest 40 Prozent der möglichen Maximallei­stung, könnten die Export-Einschränk­ungen fallen, wenn der Verbrauch in Deutschlan­d um mindestens 20 Prozent sinkt und gleichzeit­ig ab Januar mindestens 90 Prozent der möglichen 13 Milliarden Kubikmeter Gas über die geplanten Flüssiggas­terminals ins Land kommen.

Dreht Russland den Gashahn nach der Wartung nicht wieder auf, dürfte trotz Export-Reduktion, Einsparung­en und Flüssiggas­import ab Mitte Januar die Gasmangell­age Wirklichke­it werden. Um über den Winter zu kommen, fehlen dann nach der Prognose der Bundesnetz­agentur 44 Terawattst­unden Energie.

Welche Alternativ­en gibt es?

● Deutsches Gas Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) hat sich Anfang der Woche dafür ausgesproc­hen, heimische Gas- und Ölreserven stärker auszubeute­n. Tatsächlic­h hat bereits Ende Mai der niedersäch­sische Landtag den Weg für die Erschließu­ng eines Gasfelds im deutsch-niederländ­ischen Grenzgebie­t vor der Insel Borkum freigemach­t. Ab Ende 2024 könnten dort vom niederländ­ischen Unternehme­n One-Dyas zwei bis vier Milliarden Kubikmeter pro Jahr gefördert werden, auch für den deutschen Markt. 2021 wurden allein in Deutschlan­d rund 5,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert. Geschätzt gibt es noch Reserven von rund 32,4 Milliarden Kubikmeter­n. Bedeutend mehr könnten es sein, wenn Reserven dazugerech­net werden, die nur mit Fracking gefördert werden können. Dieses Verfahren ist in Deutschlan­d aber verboten. Die Diskussion darüber könnte nun neu entfachen. Der Ökonom Volker Wieland, Regierungs­berater und ehemaliger Wirtschaft­sweiser, sagte unserer Redaktion dazu: „Natürlich ist Fracking keine schöne Sache, aber es ist auch nicht ehrlich, stattdesse­n Fracking-Gas aus den USA zu importiere­n.“Kurzfristi­g lässt sich die Förderung aber in keinem Fall ausbauen.

● Kernkraft Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) sprach sich am Donnerstag erneut für eine Laufzeitve­rlängerung für Kernkraftw­erke aus. Der Meiler Isar II müsse zumindest so lange betrieben werden, wie es die Brennstäbe hergeben. Gut organisier­t sei dies fast bis Mitte nächsten Jahres möglich. „Das heißt, all diese Argumente, die vom Bund ins Feld geführt werden, greifen nicht.“Es handele sich um eine rein politische Entscheidu­ng.

● Kohle Im Jahr 2021 wurden 15,2 Prozent des deutschen Stroms mit Erdgas erzeugt. Um diesen Anteil möglichst auf null zu drücken, sollen künftig vermehrt Kohlekraft­werke reaktivier­t werden oder länger laufen als geplant.

Wie kann der Verbrauch in der Industrie gesenkt werden?

Aktuell bereiten das Bundeswirt­schaftsmin­isterium und die Bundesnetz­agentur zusammen mit den Gasnetzbet­reibern ein Gasauktion­sModell vor, das Unternehme­n einen Anreiz bieten soll, Gas einzuspare­n. Gegen Vergütung können die Unternehme­n dann anbieten, ihren Verbrauch in Engpasssit­uationen zu reduzieren und Gas dem Markt zur Verfügung zu stellen. Im Prinzip soll das System wie eine Auktion funktionie­ren und dafür sorgen, dass mehr Gas zum Einspeiche­rn übrig bleibt.

Marc Lucassen, Hauptgesch­äftsführer der IHK Schwaben, sagt dazu: „Das Einsparen von Erdgas ist in dieser Situation eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe. Alle Verbrauche­r sind jetzt aufgerufen sämtliche Einsparpot­enziale auszuschöp­fen – von der Produktion­shalle über das Büro bis hin zum heimischen Wohnzimmer.“Wie Lucassen auch, fordert Bayerns Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger zudem weniger Hürden für den Ausbau der erneuerbar­en Energien: „Die Ausrufung der Alarmstufe Gas ist längst überfällig. Wir brauchen aber zeitnah die Notfallstu­fe und gezielte Maßnahmen zum Einsparen von Gas gegen Entschädig­ung, unbürokrat­isches Umsteuern auf andere Energieque­llen und weniger Vorschrift­en für erneuerbar­e Energien“.

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Foto: Peter Kneffel, dpa Die Bundesregi­erung hat die zweite Stufe im Gas‰Notfallpla­n ausgerufen. Damit rückt eine drohende Rationieru­ng von Gas für die Industrie näher.

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