Augsburger Allgemeine (Land West)
Das Gas wird immer knapper: Und jetzt?
Energie
Wirtschaftsminister Habeck spricht von einem „ökonomischen Angriff“Russlands, Moskau dementiert politisches Kalkül. Fakt ist: Immer weniger russisches Gas erreicht Deutschland. Seit Donnerstag gilt nun die Alarmstufe. Was das heißt – und wie das Land über den Winter kommt.
Berlin Es wird immer weniger. Seit gut einer Woche liefert der russische Energieriese Gazprom nur noch rund 76 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag nach Deutschland. Das sind gerade einmal 40 Prozent der Kapazität der Pipeline Nord Stream. Der Kreml sagt, Grund dafür seien Verzögerungen bei Reparaturarbeiten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht die Drosselung aber eindeutig als politisch motiviert an, spricht gar von einem „ökonomischen Angriff“Russlands. Um diesen zu parieren, hat die Bundesregierung am Donnerstag die Alarmstufe im Notfallplan Gas ausgerufen. Was das bedeutet – abgesehen davon, dass Gas wohl noch einmal viel teurer wird:
Wie sieht der Notfallplan Gas aus?
Der Notfallplan Gas regelt das Vorgehen in Deutschland, wenn sich die Versorgungslage stark zu verschlechtern droht – oder wenn dies bereits der Fall ist. Es gibt drei Stufen: die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe. Als Kriterium für die nun ausgerufene Alarmstufe gilt „eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas“, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt. Der Markt ist aber noch in der Lage, diese Störung oder Nachfrage zu bewältigen.
Auf die Alarmstufe folgt die Notfallstufe: Der Markt kann dann Gasnachfrage und -angebot nicht mehr in Einklang bringen und der Staat muss einschreiten – um insbesondere die Versorgung der „geschützten Kunden“sicherzustellen: Das sind private Haushalte, aber auch Krankenhäuser, stationäre Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen zur Pflege und Betreuung behinderter Menschen sowie etwa Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr. Im Notfall können dann Industriekunden oder Endund Großverbraucher gezwungen werden, ihren Verbrauch zu verringern. Eine feste Abschalt-Reihenfolge in Bezug auf einzelne Großverbraucher oder Branchen gibt es nicht. Die Bundesnetzagentur orientiert sich dabei an Kriterien wie der Dringlichkeit der Maßnahme, der Größe des Unternehmens, den Vorlaufzeiten für ein Herunterfahren oder dem erwarteten volks- und betriebswirtschaftlichen Schaden.
Warum ist Erdgas für die Energieversorgung so wichtig?
Nach Mineralöl ist Erdgas in Deutschland der zweitwichtigste Energieträger. Gas wird eingesetzt zur Stromerzeugung, als Treibstoff für Schiffe und Kraftfahrzeuge oder als Wärmelieferant. Rund die Hälfte der deutschen Haushalte nutzt Erdgas zum Heizen. Laut dem Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie (BVEG) lag der Verbrauch 2021 bei rund 104 Milliarden Kubikmetern. Wichtigste Abnehmer waren Haushalte und Industrie mit jeweils 29 Prozent sowie der Energiesektor (28 Prozent).
Wichtigste Verbindung für russisches Erdgas ist die Nord-StreamPipeline, die durch die Ostsee nach Lubmin führt. Vom 11. bis 27. Juli wird sie für jährlich wiederkehrende Wartungsarbeiten ganz stillgelegt. Es gibt die Sorge, dass Russland danach die Lieferung durch die Pipeline nur verzögert oder gar nicht mehr aufnimmt.
Wie lange reicht das Gas in den Speichern?
Deutschland hat laut dem Branchenverband Ines weltweit mit die größten Speicherkapazitäten. Sie umfassen rund ein Viertel der gesamten europäischen Kapazitäten oder in Zahlen rund 24 Milliarden Kubikmeter. Laut dem neuen Speichergesetz sollen sie am 1. November zu 90 Prozent gefüllt sein. Im Moment liegt der Füllstand der deutschen Speicher bei knapp 59 Prozent. Größter Speicherbetreiber ist der Energiekonzern Uniper, auf den rund ein Viertel der deutschen Speicherkapazität entfällt. Der größte Einzelspeicher wird allerdings von einer Tochtergesellschaft von Gazprom Germania betrieben, die seit Anfang April von der Bundesnetzagentur treuhänderisch verwaltet wird. Auf ihn entfällt rund ein Fünftel der deutschen Kapazität.
Reicht das Gas für den Winter?
Wenn Russland die Gaslieferungen weiter reduziert oder nach der Wartung der Nord-Stream-Pipeline nicht wieder aufnimmt, könnte der vorgeschriebene Füllstand der Gasspeicher von 90 Prozent bis zum
Herbst nicht erreicht werden. Die Bundesnetzagentur hat aktuell eine Analyse möglicher Szenarien erstellt. Demnach kann die Gasmangellage nur vermieden werden, wenn an der bisherigen Reduktion des Exports von Gas aus Deutschland in Nachbarländer wie Frankreich, Österreich und Tschechien festgehalten wird. Liefert Russland nach den Wartungsarbeiten an der Pipeline weiterhin zumindest 40 Prozent der möglichen Maximalleistung, könnten die Export-Einschränkungen fallen, wenn der Verbrauch in Deutschland um mindestens 20 Prozent sinkt und gleichzeitig ab Januar mindestens 90 Prozent der möglichen 13 Milliarden Kubikmeter Gas über die geplanten Flüssiggasterminals ins Land kommen.
Dreht Russland den Gashahn nach der Wartung nicht wieder auf, dürfte trotz Export-Reduktion, Einsparungen und Flüssiggasimport ab Mitte Januar die Gasmangellage Wirklichkeit werden. Um über den Winter zu kommen, fehlen dann nach der Prognose der Bundesnetzagentur 44 Terawattstunden Energie.
Welche Alternativen gibt es?
● Deutsches Gas Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich Anfang der Woche dafür ausgesprochen, heimische Gas- und Ölreserven stärker auszubeuten. Tatsächlich hat bereits Ende Mai der niedersächsische Landtag den Weg für die Erschließung eines Gasfelds im deutsch-niederländischen Grenzgebiet vor der Insel Borkum freigemacht. Ab Ende 2024 könnten dort vom niederländischen Unternehmen One-Dyas zwei bis vier Milliarden Kubikmeter pro Jahr gefördert werden, auch für den deutschen Markt. 2021 wurden allein in Deutschland rund 5,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert. Geschätzt gibt es noch Reserven von rund 32,4 Milliarden Kubikmetern. Bedeutend mehr könnten es sein, wenn Reserven dazugerechnet werden, die nur mit Fracking gefördert werden können. Dieses Verfahren ist in Deutschland aber verboten. Die Diskussion darüber könnte nun neu entfachen. Der Ökonom Volker Wieland, Regierungsberater und ehemaliger Wirtschaftsweiser, sagte unserer Redaktion dazu: „Natürlich ist Fracking keine schöne Sache, aber es ist auch nicht ehrlich, stattdessen Fracking-Gas aus den USA zu importieren.“Kurzfristig lässt sich die Förderung aber in keinem Fall ausbauen.
● Kernkraft Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach sich am Donnerstag erneut für eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke aus. Der Meiler Isar II müsse zumindest so lange betrieben werden, wie es die Brennstäbe hergeben. Gut organisiert sei dies fast bis Mitte nächsten Jahres möglich. „Das heißt, all diese Argumente, die vom Bund ins Feld geführt werden, greifen nicht.“Es handele sich um eine rein politische Entscheidung.
● Kohle Im Jahr 2021 wurden 15,2 Prozent des deutschen Stroms mit Erdgas erzeugt. Um diesen Anteil möglichst auf null zu drücken, sollen künftig vermehrt Kohlekraftwerke reaktiviert werden oder länger laufen als geplant.
Wie kann der Verbrauch in der Industrie gesenkt werden?
Aktuell bereiten das Bundeswirtschaftsministerium und die Bundesnetzagentur zusammen mit den Gasnetzbetreibern ein GasauktionsModell vor, das Unternehmen einen Anreiz bieten soll, Gas einzusparen. Gegen Vergütung können die Unternehmen dann anbieten, ihren Verbrauch in Engpasssituationen zu reduzieren und Gas dem Markt zur Verfügung zu stellen. Im Prinzip soll das System wie eine Auktion funktionieren und dafür sorgen, dass mehr Gas zum Einspeichern übrig bleibt.
Marc Lucassen, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwaben, sagt dazu: „Das Einsparen von Erdgas ist in dieser Situation eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Alle Verbraucher sind jetzt aufgerufen sämtliche Einsparpotenziale auszuschöpfen – von der Produktionshalle über das Büro bis hin zum heimischen Wohnzimmer.“Wie Lucassen auch, fordert Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger zudem weniger Hürden für den Ausbau der erneuerbaren Energien: „Die Ausrufung der Alarmstufe Gas ist längst überfällig. Wir brauchen aber zeitnah die Notfallstufe und gezielte Maßnahmen zum Einsparen von Gas gegen Entschädigung, unbürokratisches Umsteuern auf andere Energiequellen und weniger Vorschriften für erneuerbare Energien“.