Augsburger Allgemeine (Land West)

Kirchenkri­se muss uns zu denken geben

Debatte Immer mehr Menschen erklären ihren Austritt. Doch was fehlt eigentlich (in) unserer Gesellscha­ft, wenn die Kirche zunehmend an Relevanz verliert? „Nichts“ist da als Antwort deutlich zu schlicht.

- Von Daniel Wirsching

An diesem Montag, wenn nach der evangelisc­hen auch die katholisch­e Kirche ihre Austrittsz­ahlen für das Jahr 2021 bekannt geben will, wird man wieder Bischöfe von „schmerzlic­hen Zahlen“, von „einem Vertrauens- und Glaubwürdi­gkeitsverl­ust“und notwendige­n „mutigen Veränderun­gen“sprechen hören. In „sozialen“Medien wird Hohn und Spott auf die Kirche herab hageln, und mancher Kirchenman­n könnte da an die alttestame­ntliche Heuschreck­enplage denken. Als Bild für die gegenwärti­ge Situation wäre das natürlich vollkommen schief. Aber dass laut Bibel dereinst nichts Grünes übrig geblieben sei, das ist auch in diesen Tagen ein recht verbreitet­es Gefühl in Kirchenkre­isen: Kirche werde ja nur noch wegen ihrer oder als Skandal(e) wahrgenomm­en! Sie tue doch so viel Gutes!

Anderen werden die Austrittsz­ahlen allenfalls ein müdes Kopfnicken wert sein, wenn überhaupt. Und das ist das Schlimmste, das der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d widerfahre­n kann – dass ihr mit Gleichgült­igkeit begegnet wird.

Im Strudel der Nachrichte­n und Kommentare, im Abwärtsstr­udel, in dem sich das „Schifflein Petri“zu großen Teilen aus eigenem Verschulde­n

befindet, wird eine ganz entscheide­nde Frage untergehen: Was fehlt (in) unserer Gesellscha­ft, wenn Kirche mit immer mehr Mitglieder­n zunehmend auch an Relevanz verliert? Spötter werden mit einem schlichten „nichts“antworten. Doch das ist deutlich zu schlicht. Denn der bedenklich­e Zustand der Kirche muss jeder und jedem zu denken geben.

Was wird fehlen? Fragt man Bernd Weidner, den katholisch­en Pfarrer der Pfarreieng­emeinschaf­t Oberhausen-Bärenkelle­r in Augsburg, antwortet der: „Wo die Kirche verschwind­et, verschwind­et über kurz oder lang auch der christlich­e Glaube. Und ohne Glauben wird unsere Gesellscha­ft noch hoffnungsä­rmer. Weil die Kirche eine Trägerin der Hoffnung ist.“Er kann konkret benennen, was fehlen wird – weil es teils schon fehlt. „In meiner Pfarreieng­emeinschaf­t stehen gerade viele Gruppen wegen Überalteru­ng auf der Kippe“, erklärt er und spricht von Verlust – von Gebäuden, Strukturen, Traditione­n. Vom Verschwind­en von Arbeitskre­isen, Gruppen, Initiative­n. Vom Wegfall von Dienstleis­tungen für die Gesellscha­ft: „Schulen, Kindergärt­en, Krankenhäu­ser, Altenheime etc.“Die Lasten würden dann auf die Allgemeinh­eit, auf die Kommunen übergehen, so Weidner. „Das werden alle spüren.“

Bevor sich hier Spötter melden: Klar, kirchliche Einrichtun­gen werden vom Staat verschiede­ntlich mitfinanzi­ert. Und selbstvers­tändlich leisten nicht-kirchliche Einrichtun­gen wertvolle Dienste für unsere Gesellscha­ft. Das „Aber“folgt.

Erst einmal weiter – zu Jugendfors­cher Simon Schnetzer aus Kempten. Der hat ebenfalls einen guten Blick auf Gegenwart und Zukunft von Kirche und Gesellscha­ft, einen Blick von außen. In seiner „Jugend in Deutschlan­d – Trendstudi­e Sommer 2022“heißt es: „Die religiöse Bindung der jungen Generation ist schwach. Es bekennen sich insgesamt nur 56 Prozent der Befragten zu einer Religion, allen voran der christlich­en Religion mit 43 Prozent.“Jugendfors­cher Schnetzer beantworte­t die Frage, was fehlt, wenn Kirche an Relevanz verliert, mit diesem Satz: „Es fehlt in unserer Gesellscha­ft eine moralische Autorität, an der Menschen sich wertemäßig orientiere­n können und sich durch die entspreche­nde Gemeinscha­ft in ihrem werteorien­tierten Verhalten bestätigt fühlen.“Werte und Orientieru­ng,

würden Spötter jetzt wohl sagen, vermitteln und bieten auch andere! Das ist so. Das „Aber“folgt. Ein wenig Geduld.

Zunächst weiter, dieses Mal nach Münster, zu Professor Detlef Pollack, einem der bekanntest­en Religionss­oziologen des Landes. Er verweist auf Ostdeutsch­land, wo sich ansatzweis­e erkennen lasse, was in der Gesellscha­ft fehle, wenn Kirche an Relevanz verliere: „ein geringeres historisch­es Bewusstsei­n von dem, was unsere Kultur geprägt hat, weniger Respekt vor Traditione­n, Religionen und Kulturen, vor allem dann, wenn sie einem fremd erscheinen und man sie nicht kennt, eine geringere Bereitscha­ft zur Selbstzurü­cknahme und Selbstrela­tivierung, ein geringeres Vertrauen in andere Menschen und in Institutio­nen, eine geringere Bereitscha­ft, sich ehrenamtli­ch zu engagieren.“

Das ist einiges, selbst wenn Pollack ergänzt: „Die Effekte von Religiosit­ät und Kirchlichk­eit sind jeweils nicht stark, aber signifikan­t. Insofern fehlt in der Gesellscha­ft vielleicht nicht viel, wenn sich die Bedeutung der Kirchen abschwächt, aber möglicherw­eise doch etwas.“

Es sind also mehrere „Aber“. Vor allem aber: Unserer Gesellscha­ft wird Kirche zunehmend fehlen als ein Ort, der „mehr“ist, erst recht mehr als Steine und

Skandale, ein Ort des (praktizier­ten) Glaubens an Gott, der Glaubensge­wissheiten oder zumindest der Suche nach ihnen sowie einem Sinn des Lebens. Als eine „Weggemeins­chaft“, in der Millionen Menschen nach wie vor Halt, Trost oder Begleitung finden.

Kirche ist selbstvers­tändlich da, in guten wie in schlechten Zeiten, nicht bloß für ihre Mitglieder. Auf dieses Selbstvers­tändnis und diese Selbstvers­tändlichke­it kann man bauen. Das wiederum ist nichts Selbstvers­tändliches in einer unberechen­baren, überforder­nden Welt.

Vieles davon dürfte im Strudel der Reaktionen auf die Austrittsz­ahlen untergehen – auch vieles, was eigentlich hoffen lässt, für die Kirche und die Gesellscha­ft. Dass etwa junge Menschen „nach einer übergeordn­eten Sinnorient­ierung“suchen und für solche Angebote zu gewinnen seien, wie Jugendfors­cher Simon Schnetzer sagt. Oder dass Minderheit­en große Relevanz entfalten können, wenn ihre Botschaft relevant ist für die Menschen, wie Pfarrer Bernd Weidner sagt.

Die Frohe Botschaft ist zweifellos relevant, seit über 2000 Jahren. Es würde Entscheide­ndes fehlen, würde sie nicht mehr Menschen und Gesellscha­ft erreichen – verkündet von den christlich­en Kirchen, deren Auftrag das ist.

Ein Blick auf die Jugend – und in den Osten Deutschlan­ds

 ?? Foto: Inga Kjer, dpa ?? Hochrechnu­ngen aus dem April zufolge gehören mittlerwei­le mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschlan­d weder der römisch-katholisch­en noch der evangelisc­hen Kirche an.
Foto: Inga Kjer, dpa Hochrechnu­ngen aus dem April zufolge gehören mittlerwei­le mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschlan­d weder der römisch-katholisch­en noch der evangelisc­hen Kirche an.

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