Augsburger Allgemeine (Land West)
Kirchenkrise muss uns zu denken geben
Debatte Immer mehr Menschen erklären ihren Austritt. Doch was fehlt eigentlich (in) unserer Gesellschaft, wenn die Kirche zunehmend an Relevanz verliert? „Nichts“ist da als Antwort deutlich zu schlicht.
An diesem Montag, wenn nach der evangelischen auch die katholische Kirche ihre Austrittszahlen für das Jahr 2021 bekannt geben will, wird man wieder Bischöfe von „schmerzlichen Zahlen“, von „einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust“und notwendigen „mutigen Veränderungen“sprechen hören. In „sozialen“Medien wird Hohn und Spott auf die Kirche herab hageln, und mancher Kirchenmann könnte da an die alttestamentliche Heuschreckenplage denken. Als Bild für die gegenwärtige Situation wäre das natürlich vollkommen schief. Aber dass laut Bibel dereinst nichts Grünes übrig geblieben sei, das ist auch in diesen Tagen ein recht verbreitetes Gefühl in Kirchenkreisen: Kirche werde ja nur noch wegen ihrer oder als Skandal(e) wahrgenommen! Sie tue doch so viel Gutes!
Anderen werden die Austrittszahlen allenfalls ein müdes Kopfnicken wert sein, wenn überhaupt. Und das ist das Schlimmste, das der katholischen Kirche in Deutschland widerfahren kann – dass ihr mit Gleichgültigkeit begegnet wird.
Im Strudel der Nachrichten und Kommentare, im Abwärtsstrudel, in dem sich das „Schifflein Petri“zu großen Teilen aus eigenem Verschulden
befindet, wird eine ganz entscheidende Frage untergehen: Was fehlt (in) unserer Gesellschaft, wenn Kirche mit immer mehr Mitgliedern zunehmend auch an Relevanz verliert? Spötter werden mit einem schlichten „nichts“antworten. Doch das ist deutlich zu schlicht. Denn der bedenkliche Zustand der Kirche muss jeder und jedem zu denken geben.
Was wird fehlen? Fragt man Bernd Weidner, den katholischen Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Oberhausen-Bärenkeller in Augsburg, antwortet der: „Wo die Kirche verschwindet, verschwindet über kurz oder lang auch der christliche Glaube. Und ohne Glauben wird unsere Gesellschaft noch hoffnungsärmer. Weil die Kirche eine Trägerin der Hoffnung ist.“Er kann konkret benennen, was fehlen wird – weil es teils schon fehlt. „In meiner Pfarreiengemeinschaft stehen gerade viele Gruppen wegen Überalterung auf der Kippe“, erklärt er und spricht von Verlust – von Gebäuden, Strukturen, Traditionen. Vom Verschwinden von Arbeitskreisen, Gruppen, Initiativen. Vom Wegfall von Dienstleistungen für die Gesellschaft: „Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime etc.“Die Lasten würden dann auf die Allgemeinheit, auf die Kommunen übergehen, so Weidner. „Das werden alle spüren.“
Bevor sich hier Spötter melden: Klar, kirchliche Einrichtungen werden vom Staat verschiedentlich mitfinanziert. Und selbstverständlich leisten nicht-kirchliche Einrichtungen wertvolle Dienste für unsere Gesellschaft. Das „Aber“folgt.
Erst einmal weiter – zu Jugendforscher Simon Schnetzer aus Kempten. Der hat ebenfalls einen guten Blick auf Gegenwart und Zukunft von Kirche und Gesellschaft, einen Blick von außen. In seiner „Jugend in Deutschland – Trendstudie Sommer 2022“heißt es: „Die religiöse Bindung der jungen Generation ist schwach. Es bekennen sich insgesamt nur 56 Prozent der Befragten zu einer Religion, allen voran der christlichen Religion mit 43 Prozent.“Jugendforscher Schnetzer beantwortet die Frage, was fehlt, wenn Kirche an Relevanz verliert, mit diesem Satz: „Es fehlt in unserer Gesellschaft eine moralische Autorität, an der Menschen sich wertemäßig orientieren können und sich durch die entsprechende Gemeinschaft in ihrem werteorientierten Verhalten bestätigt fühlen.“Werte und Orientierung,
würden Spötter jetzt wohl sagen, vermitteln und bieten auch andere! Das ist so. Das „Aber“folgt. Ein wenig Geduld.
Zunächst weiter, dieses Mal nach Münster, zu Professor Detlef Pollack, einem der bekanntesten Religionssoziologen des Landes. Er verweist auf Ostdeutschland, wo sich ansatzweise erkennen lasse, was in der Gesellschaft fehle, wenn Kirche an Relevanz verliere: „ein geringeres historisches Bewusstsein von dem, was unsere Kultur geprägt hat, weniger Respekt vor Traditionen, Religionen und Kulturen, vor allem dann, wenn sie einem fremd erscheinen und man sie nicht kennt, eine geringere Bereitschaft zur Selbstzurücknahme und Selbstrelativierung, ein geringeres Vertrauen in andere Menschen und in Institutionen, eine geringere Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren.“
Das ist einiges, selbst wenn Pollack ergänzt: „Die Effekte von Religiosität und Kirchlichkeit sind jeweils nicht stark, aber signifikant. Insofern fehlt in der Gesellschaft vielleicht nicht viel, wenn sich die Bedeutung der Kirchen abschwächt, aber möglicherweise doch etwas.“
Es sind also mehrere „Aber“. Vor allem aber: Unserer Gesellschaft wird Kirche zunehmend fehlen als ein Ort, der „mehr“ist, erst recht mehr als Steine und
Skandale, ein Ort des (praktizierten) Glaubens an Gott, der Glaubensgewissheiten oder zumindest der Suche nach ihnen sowie einem Sinn des Lebens. Als eine „Weggemeinschaft“, in der Millionen Menschen nach wie vor Halt, Trost oder Begleitung finden.
Kirche ist selbstverständlich da, in guten wie in schlechten Zeiten, nicht bloß für ihre Mitglieder. Auf dieses Selbstverständnis und diese Selbstverständlichkeit kann man bauen. Das wiederum ist nichts Selbstverständliches in einer unberechenbaren, überfordernden Welt.
Vieles davon dürfte im Strudel der Reaktionen auf die Austrittszahlen untergehen – auch vieles, was eigentlich hoffen lässt, für die Kirche und die Gesellschaft. Dass etwa junge Menschen „nach einer übergeordneten Sinnorientierung“suchen und für solche Angebote zu gewinnen seien, wie Jugendforscher Simon Schnetzer sagt. Oder dass Minderheiten große Relevanz entfalten können, wenn ihre Botschaft relevant ist für die Menschen, wie Pfarrer Bernd Weidner sagt.
Die Frohe Botschaft ist zweifellos relevant, seit über 2000 Jahren. Es würde Entscheidendes fehlen, würde sie nicht mehr Menschen und Gesellschaft erreichen – verkündet von den christlichen Kirchen, deren Auftrag das ist.
Ein Blick auf die Jugend – und in den Osten Deutschlands