Augsburger Allgemeine (Land West)
Seien wir doch alle ein bisschen liederlich
Wenn uns der unerbittlich vorrückende Zeiger der Uhr allzu sehr in Beschlag nimmt, braucht es ein wenig Weltabwendung: Rüdiger Safranski über Thomas Manns „Zauberberg“und das „Geheimnis der Zeit“.
Die Zahl der Romane, die man für wert halten würde, einmal im Jahr den Erläuterungen eines kundigen Interpreten über sie zu folgen, die Anzahl dieser Bücher dürfte überschaubar sein. Dass „Der Zauberberg“von Thomas Mann zwingend auf die Liste gehört, beweisen seit Jahren die Gastvorträge der Zauberberg-Stiftung – eine Gründung von Klaus W. Jonas und seiner Frau – in Zusammenarbeit mit der Uni Augsburg. Namhafte Germanisten und Schriftsteller sprachen bisher über Thomas Manns kapitalen, 1924 erschienen Roman, jetzt war es Rüdiger Safranski, der im Rokokosaal der Regierung dem „Geheimnis der Zeit“im „Zauberberg“auf der Spur war.
Safranski, bekannt als Verfasser von Biografien über Dichter wie Goethe und Schiller und Denker wie Schopenhauer und Nietzsche, hat 2015 auch ein Buch über „Zeit“veröffentlicht, war somit prädestiniert, sich Gedanken zu machen, was denn Thomas Mann und seine Hauptfigur Hans Castorp mit der Zeit machen und was sie mit ihnen macht. Für Safranski ist „Der Zauberberg“nämlich ganz wesentlich ein Roman über Zeiterfahrung, wenn auch unter der bedeutsamen Voraussetzung, dass man sich eine Auszeit genommen hat – wie dies im Roman Hans Castorp in einem Schweizer Sanatorium tut. Denn die Auszeit ist so ganz anders als die Zeiterfahrung des modernen, rastlos tätigen Menschen, der es sich angewöhnt hat, Zeit als eine höchst knappe Ressource wahrzunehmen.
Anders dagegen Hans Castorp, der im Bergsanatorium anfängt wahrzunehmen, dass die Zeit eben nicht ein knappes Gut sein muss, dass vielmehr die Auszeit, so sieht es Safranski, ein „gesteigertes Leben“möglich macht. Entwindet man sich erst einmal dem „Zeit ist Geld“-Bewusstsein, lässt es sich mit der Zeit aus dem Vollen schöpfen, ohne dass man dabei ein schlechtes Gewissen haben muss. Man kann sich dann, wie Hans
Castorp es tut, regelrecht in die Zeit vertiefen, in ihr Mysterium eintauchen und letztlich Genuss empfinden beim reinen Vergehen der Zeit, ein Zustand, dem auch die Langeweile nichts mehr anzuhaben vermag.
Gekonnt wechselt Safranski zwischen den Ebenen, teilt den Handlungsgang des Romans, soweit zum Verständnis notwendig, ebenso mit, wie die grundlegenden Fakten zum Entstehungsprozess, um daran anknüpfend Reflexionen über die Zeit und den Umgang mit ihr zu knüpfen. Safranski verweist dabei auch auf die Zeit als strukturbildendes Element der Textgestalt: Keineswegs nämlich ist der Menge an chronologisch verstreichender Zeit die proportionale Zahl an Seiten gewidmet – ein poetologisches Verfahren gemäß der subjektiven Empfindung, dass das Kurzweilige zu schnell, das Ereignisarme jedoch nur schleppend vergeht.
Safranski zufolge ist Hans Castorps Zeitverständnis auf seinem Zauberberg vergleichbar mit der Zeitauffassung des Künstlers, wie Thomas Mann ihn sah (und damit sich selbst). Der Künstler benötigt Zeit, um sein Werk zu schaffen – vom ersten Davos-Besuch 1912 bis zum Erscheinen des „Zauberbergs“vergingen zwölf Jahre –, und am besten gelingt eine solch „liederliche“, letztlich aber produktive Zeitverschwendung in der Weltabgeschiedenheit. Welche freilich die Gefahr in sich birgt – Safranski nimmt hier Gustav Mahlers Rückert-Vertonung beim Wort – „der Welt abhandenzukommen“. Das, sagt Safranski, sei dem Verfasser des „Zauberbergs“ja auch selbst widerfahren, als er, Thomas Mann, den Ersten Weltkrieg zunächst in fragwürdigem Überschwang willkommen hieß und sich erst nach der Katastrophe zum strikten Republikaner zu wandeln begann.
Den literarischen Rang des „Zauberberg“, das betont Safranski freilich, macht jedoch nicht sein politischer Echoraum aus. Nein, „das Wunderbare an dem Roman ist, dass er uns Abstand nehmen lässt vom alltäglichen Zeitbetrieb“– und uns Leser damit ermuntere, „auf spielerische Weise außergewöhnliche Erfahrungen mit der Zeit zu machen“. Für Rüdiger Safranski ist „Der Zauberberg“deshalb auch „der größte unter Thomas Manns Romanen“.