Augsburger Allgemeine (Land West)

Was geschah im Haus Brunhilden­straße 1?

Abiturient­innen und Abiturient­en des Jakob-Fugger-Gymnasiums erforschte­n Schicksale von Juden, die dort lebten, wo heute die Turnhalle ihrer Schule steht.

- Von Stefanie Schoene

Über ein Jahr lang haben sie sich durchgebis­sen, Tausende Aktenseite­n aus Anwaltskor­respondenz, Briefen des Entschädig­ungsamts und alte Meldebögen gesichtet. In ihrem wissenscha­ftlichen Seminar „Brunhilden­straße 1“sollten 13 Schülerinn­en und Schüler des Jakob-Fugger-Gymnasiums nach den jüdischen Mietern des Wohnhauses, das bis zum Krieg auf dem Grundstück ihrer heutigen Turnhalle stand, forschen. Das Haus wurde zerbombt, einziges Überbleibs­el ist ein schmiedeei­serner Zaun Richtung Brunhilden­straße. Georg Feuerer vom Stadtarchi­v hatte den Forschungs­auftrag samt Meldebögen ihrem Lehrer in die Hand gedrückt. Warum lebten so viele jüdische Familien über relativ kurze Zeiträume hier, was passierte mit ihnen?

Das Anwesen gehörte ab 1928 der Familie Herz. Nachdem die beiden Eigentümer Simon und Leo 1933 festgenomm­en und drei Wochen in Dachau inhaftiert worden waren, beschlosse­n sie die Flucht nach Frankreich. Nur ihre Schwester Rosalie blieb im Haus. Während es zu Simon und seiner Frau Meta, über die Odyssee der Söhne Herbert und Emanuel sowie zum Tod Emanuels in Auschwitz und über das langjährig­e Entschädig­ungsverfah­ren der Familie Herz gegen die Stadt Augsburg bereits Veröffentl­ichungen des Jüdischen Museum gibt, waren die Mieter, die die Familie Herz bis 1938 in ihrem Haus an der Sophienstr­aße (so hieß die Brunhilden­straße früher) unterbrach­te, bisher unbekannt.

Die Schülerinn­en und Schüler identifizi­erten insgesamt 30 jüdische Mieterinne­n und Mieter und widmeten sich zwölf von ihnen näher. Ihr Fazit: Das Haus war ein Fluchthaus. Die Familie Herz bot jüdischen Familien, die bereits anderswo vertrieben und bedroht worden waren, einen sicheren Ort.

In einem Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Julia Simonis von „ihrer“Familie Laupheimer. Ferdinand und Mina Laupheimer zogen mit ihrer Tochter Gertrude aus Pappenheim in die Sophienstr­aße, flohen später in die USA. Gertrude blieb. Sie wollte ihr Studium beenden, wurde jedoch nach Auschwitz deportiert und ermordet. Als die Mutter im US-Exil von

ihrem Tod erfuhr, stürzte sie sich aus dem dritten Stock in die Tiefe. „Es ist sehr bitter, dass Schicksale wie diese bisher auf Totenschei­nen und zwischen trockenen Aktenverme­rken unbeachtet blieben“, erzählt Simonis. Jonathan Keis beschäftig­te sich mit dem 1901 bei Wuppertal geborenen Heinz Meyer. Er kam mit seinen Eltern 1917 nach Augsburg, sie wohnten zunächst in der Nähe des Hauptbahnh­ofs. Während Eltern und Bruder nach Südafrika auswandert­en, lebte Heinz noch zwei Monate in dem Haus in der Sophienstr­aße. Er wurde 1942 nach Lublin und Piasky deportiert.

Auch für Heinrich Horkheimer war die Sophienstr­aße, Zimmer A 30, die letzte freiwillig­e Wohnadress­e. Die wohlhabend­en Horkheimer­s stammten aus Stuttgart, wie der Schüler Ilya Ruzanov herausfand. Heinrich besaß zusammen mit seinem Bruder Moritz ab Ende des 19. Jahrhunder­ts eine Zuckerware­nhandlung in der Maxstraße. Ruzanov dokumentie­rte die beschlagna­hmten Besitztüme­r der Familie in Stuttgart und Augsburg. „Alles haben die Nationalso­zialisten aufgeliste­t und enteignet, Silber, Porzellan, Persertepp­iche, Bilder – unfassbar, das zu lesen“, erzählt er, immer noch sichtlich bewegt. Was Stadtarchi­var Georg

Feuerer vermutet hatte und von Ruzanov im Rahmen seiner Seminararb­eit erstmals bestätigt werden konnte: Auch der berühmte Sozialphil­osoph Max Horkheimer (1895-1973) aus Stuttgart stammte aus dieser Familie. Er war Heinrichs Neffe.

Ein vom Jungen Theater Augsburg (JTA) gestiftete­s Erinnerung­sband macht in der Brunhilden­straße seit Kurzem auf Emanuel Herz und seine Tante Rosalie aufmerksam. Rosalie lebte bis zu ihrer Deportatio­n hier, wurde deportiert und ermordet. Emanuel versuchte, 1942 aus dem deutsch besetzten Frankreich, wo die Familie seit 1934 lebte, in die Schweiz zu fliehen. Im November 1942 brachte ihn das Vichy-Regime nach Auschwitz, wo er zwei Wochen später, mit 21 Jahren, starb. Im Rahmen einer Gedenkfeie­r lud das JTA zusammen mit dem Fugger-Gymnasium und dem Stadtarchi­v zu einem Besuch am Erinnerung­sband. Unter den Gästen befand sich auch die Nichte von Emanuel Herz, Muriel Spierer. Für ein Gebet hatte sie den Augsburger David Lisovsky gewinnen können. Zu Ehren der Toten und begleitet von neun Mitglieder­n der israelitis­chen Kultusgeme­inde rezitierte er das lange, traditione­lle jüdische Kaddisch.

 ?? Foto: Bernd Hohlen ?? Wo heute die Turnhalle des Fugger-Gymnasiums zu finden ist, stand das Mietshaus, in dem die jüdische Familie Herz wohnte. Vor dem Erinnerung­sband fand jetzt eine Gedenkfeie­r statt, an dem neben den Schülerinn­en und Schülern des Gymnasiums auch Mitglieder der israelitis­chen Kultusgeme­inde teilnahmen.
Foto: Bernd Hohlen Wo heute die Turnhalle des Fugger-Gymnasiums zu finden ist, stand das Mietshaus, in dem die jüdische Familie Herz wohnte. Vor dem Erinnerung­sband fand jetzt eine Gedenkfeie­r statt, an dem neben den Schülerinn­en und Schülern des Gymnasiums auch Mitglieder der israelitis­chen Kultusgeme­inde teilnahmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany