Augsburger Allgemeine (Land West)
Was geschah im Haus Brunhildenstraße 1?
Abiturientinnen und Abiturienten des Jakob-Fugger-Gymnasiums erforschten Schicksale von Juden, die dort lebten, wo heute die Turnhalle ihrer Schule steht.
Über ein Jahr lang haben sie sich durchgebissen, Tausende Aktenseiten aus Anwaltskorrespondenz, Briefen des Entschädigungsamts und alte Meldebögen gesichtet. In ihrem wissenschaftlichen Seminar „Brunhildenstraße 1“sollten 13 Schülerinnen und Schüler des Jakob-Fugger-Gymnasiums nach den jüdischen Mietern des Wohnhauses, das bis zum Krieg auf dem Grundstück ihrer heutigen Turnhalle stand, forschen. Das Haus wurde zerbombt, einziges Überbleibsel ist ein schmiedeeiserner Zaun Richtung Brunhildenstraße. Georg Feuerer vom Stadtarchiv hatte den Forschungsauftrag samt Meldebögen ihrem Lehrer in die Hand gedrückt. Warum lebten so viele jüdische Familien über relativ kurze Zeiträume hier, was passierte mit ihnen?
Das Anwesen gehörte ab 1928 der Familie Herz. Nachdem die beiden Eigentümer Simon und Leo 1933 festgenommen und drei Wochen in Dachau inhaftiert worden waren, beschlossen sie die Flucht nach Frankreich. Nur ihre Schwester Rosalie blieb im Haus. Während es zu Simon und seiner Frau Meta, über die Odyssee der Söhne Herbert und Emanuel sowie zum Tod Emanuels in Auschwitz und über das langjährige Entschädigungsverfahren der Familie Herz gegen die Stadt Augsburg bereits Veröffentlichungen des Jüdischen Museum gibt, waren die Mieter, die die Familie Herz bis 1938 in ihrem Haus an der Sophienstraße (so hieß die Brunhildenstraße früher) unterbrachte, bisher unbekannt.
Die Schülerinnen und Schüler identifizierten insgesamt 30 jüdische Mieterinnen und Mieter und widmeten sich zwölf von ihnen näher. Ihr Fazit: Das Haus war ein Fluchthaus. Die Familie Herz bot jüdischen Familien, die bereits anderswo vertrieben und bedroht worden waren, einen sicheren Ort.
In einem Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Julia Simonis von „ihrer“Familie Laupheimer. Ferdinand und Mina Laupheimer zogen mit ihrer Tochter Gertrude aus Pappenheim in die Sophienstraße, flohen später in die USA. Gertrude blieb. Sie wollte ihr Studium beenden, wurde jedoch nach Auschwitz deportiert und ermordet. Als die Mutter im US-Exil von
ihrem Tod erfuhr, stürzte sie sich aus dem dritten Stock in die Tiefe. „Es ist sehr bitter, dass Schicksale wie diese bisher auf Totenscheinen und zwischen trockenen Aktenvermerken unbeachtet blieben“, erzählt Simonis. Jonathan Keis beschäftigte sich mit dem 1901 bei Wuppertal geborenen Heinz Meyer. Er kam mit seinen Eltern 1917 nach Augsburg, sie wohnten zunächst in der Nähe des Hauptbahnhofs. Während Eltern und Bruder nach Südafrika auswanderten, lebte Heinz noch zwei Monate in dem Haus in der Sophienstraße. Er wurde 1942 nach Lublin und Piasky deportiert.
Auch für Heinrich Horkheimer war die Sophienstraße, Zimmer A 30, die letzte freiwillige Wohnadresse. Die wohlhabenden Horkheimers stammten aus Stuttgart, wie der Schüler Ilya Ruzanov herausfand. Heinrich besaß zusammen mit seinem Bruder Moritz ab Ende des 19. Jahrhunderts eine Zuckerwarenhandlung in der Maxstraße. Ruzanov dokumentierte die beschlagnahmten Besitztümer der Familie in Stuttgart und Augsburg. „Alles haben die Nationalsozialisten aufgelistet und enteignet, Silber, Porzellan, Perserteppiche, Bilder – unfassbar, das zu lesen“, erzählt er, immer noch sichtlich bewegt. Was Stadtarchivar Georg
Feuerer vermutet hatte und von Ruzanov im Rahmen seiner Seminararbeit erstmals bestätigt werden konnte: Auch der berühmte Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895-1973) aus Stuttgart stammte aus dieser Familie. Er war Heinrichs Neffe.
Ein vom Jungen Theater Augsburg (JTA) gestiftetes Erinnerungsband macht in der Brunhildenstraße seit Kurzem auf Emanuel Herz und seine Tante Rosalie aufmerksam. Rosalie lebte bis zu ihrer Deportation hier, wurde deportiert und ermordet. Emanuel versuchte, 1942 aus dem deutsch besetzten Frankreich, wo die Familie seit 1934 lebte, in die Schweiz zu fliehen. Im November 1942 brachte ihn das Vichy-Regime nach Auschwitz, wo er zwei Wochen später, mit 21 Jahren, starb. Im Rahmen einer Gedenkfeier lud das JTA zusammen mit dem Fugger-Gymnasium und dem Stadtarchiv zu einem Besuch am Erinnerungsband. Unter den Gästen befand sich auch die Nichte von Emanuel Herz, Muriel Spierer. Für ein Gebet hatte sie den Augsburger David Lisovsky gewinnen können. Zu Ehren der Toten und begleitet von neun Mitgliedern der israelitischen Kultusgemeinde rezitierte er das lange, traditionelle jüdische Kaddisch.