Augsburger Allgemeine (Land West)
Das Kulturleben leidet an Post-Covid
Leitartikel Dem Corona-Frieden traut gerade niemand: Zu einschneidend waren die Erfahrungen in den vergangenen Wintern. Sie wirken jetzt wie ein schleichendes Gift.
Mit wem man spricht, wohin man geht, die Antworten ähneln sich: Die Auswirkungen der PandemieMaßnahmen auf das Kulturleben sind nachhaltiger und tiefgreifender, als sich das die verantwortlichen Politiker wahrscheinlich gedacht haben. Auch im Kulturleben hat sich ein Post-Covid-Syndrom eingestellt. Noch ist nicht abzusehen, ob es sich als eine Nachwehe der Pandemie von selbst abschwächen wird, bis nichts mehr davon übrig bleibt, oder ob dieser Zustand das neue Normal sein wird.
Wie sich Post-Covid im Kulturleben äußert? Zum Beispiel darin, dass der Schrecken, den eigenen Beruf nicht mehr ausüben zu können, bei den Betroffenen sehr tief sitzt. Zum Beispiel bei einem selbstständigen Musiker, der jüngst erzählt hat, vor der Pandemie
mit seiner Band rund 70 Auftritte zu absolvieren, genügend für alle, um davon zu leben. Aber dann konnte die Band praktisch zwei Jahre lang nicht spielen, alle waren gezwungen, sich zusätzlich zu den Hilfen noch neue Standbeine aufzubauen. Und jetzt, wo es wieder Volksfeste gibt, traut die Band dem
Corona-Frieden nicht, sie möchte nicht wieder voll und ganz auf diese eine Karte setzen und dafür alle Termine im Jahr freihalten.
Ein Beispiel, aber eines, das für viele steht. Gerade sind die Corona-Maßnahmen stark zurückgefahren. Was passiert, wenn im Winter eine neue Welle heranrollt? Gibt es dann wieder eine Maskenpflicht für Kulturveranstaltungen? Müssen Abstände eingehalten werden? Werden maximale Besucherobergrenzen eingeführt? Werden
Volksfeste und Großveranstaltungen wieder abgesagt?
Hört man sich herum, merkt man, dass Musikerinnen und Musiker erzählen, wie viele Angebote sie für den September bekommen, weil viele Veranstalterinnen und Veranstalter versuchen, mit einem früheren Termin einen möglichen Corona-Welle samt staatlicher Intervention auf das Kulturleben zuvorzukommen. Aber für den Oktober, November und Dezember schaut es schlechter aus. Wie ein schleichendes Gift hat sich Unsicherheit ausgebreitet, in alle Bereiche, übrigens auch hin bis zu denen, die Kulturveranstaltungen besuchen. Jetzt schon Karten im Vorverkauf für Dezember- oder Januar-Termine kaufen und am Ende wieder umtauschen müssen? Nein, dann doch lieber warten.
Wenn jetzt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth zu hören ist, dass die Energiekrise keine Auswirkungen auf das Kulturleben haben darf, hören Künstlerinnen und Künstler etwas anderes zwischen den Zeilen heraus: Dass das, was gefordert wird, anscheinend unsicher ist. Noch kann niemand sagen, wie sich die Energiekrise auf das Kulturleben in diesem Winter auswirken wird. Große Hallen zu beheizen, benötigt viel Energie – Energie, die ja gespart werden soll. Energie, die Hallenbetreiber jetzt viel mehr Geld kostet.
Ein Therapieansatz gegen das Post-Covid-Syndrom im Kulturleben wäre es, wenn es der Politik gelänge, mehr Vertrauen zu schaffen, Vertrauen darin, dass es keine staatlichen Eingriffe mehr ins Kulturund Gesellschaftsleben gibt, die strikte Corona-Politik eine Ausnahme in der Nachkriegsgeschichte bleibt. Solange die Pandemie nicht offiziell für beendet erklärt ist, wird es allerdings schwer, glaubhaft zu argumentieren. Denn sobald darüber debattiert wird, wie die Maßnahmen für den kommenden Winter aussehen könnten, wird das Post-Covid-Syndrom im Kulturbereich wieder stärker, überlegen sich noch mehr Menschen, wie sicher der eigene Beruf ist und welche Alternativen es gibt.
Große Hallen zu beheizen, benötigt viel Energie