Augsburger Allgemeine (Land West)

„Die deutsche Energiepol­itik ist untauglich“

Der frühere SPD-Chef Rudolf Scharping sieht in der Vorgehensw­eise der Bundesregi­erung ein Risiko für den sozialen Zusammenha­lt in Deutschlan­d. Auch er fordert jetzt einen Weiterbetr­ieb der Atomkraftw­erke.

- Interview: Stefan Stahl

Herr Scharping, Deutschlan­d steckt in einem Energie-Dilemma. Windstrom aus dem Norden kann wegen fehlender Leitungen nicht ausreichen­d in den Süden transporti­ert werden, die meisten Atomkraftw­erke wurden abgeschalt­et und Gas ist viel zu teuer. Wie kommen wir da wieder raus?

Rudolf Scharping: Wir sind ab 2011 aus der Atomkraft ausgestieg­en, danach aus der Kohle. Diese Energieträ­ger sollten durch erneuerbar­en Strom ersetzt werden. Einen klaren Plan dafür gab es nicht, und das war ein Riesenfehl­er. Nun stehen wir angesichts der enorm gestiegene­n Gas- und Strompreis­e vor einer immensen Herausford­erung, wirtschaft­lich und sozial. Scharf formuliert: Die deutsche Energiepol­itik ist untauglich, internatio­nal isoliert und ein Risiko für die Wettbewerb­sfähigkeit und für den sozialen Zusammenha­lt in Deutschlan­d.

Das ist ein harter Befund. Doch noch einmal: Wie kommen wir raus aus dem Energie-Dilemma?

Scharping: Indem wir, was die Energieque­llen betrifft, auf mehreren Standbeine­n stehen. Wir können jetzt auf keine Energieque­lle verzichten.

Demnach müssten wir weiter auf Atomkraft und langfristi­ger auch auf Kohlekraft oder Gas setzen.

Scharping: Ja, wir können es uns noch für viele Jahre nicht leisten, auf eine Energieque­lle zu verzichten. Das gilt für Erdöl, Gas, Kohle, aber auch Atomkraft. Dafür bedarf es rasch eines langfristi­gen und verlässlic­hen Rahmens. Italien hat sich auf mehr als zwei Jahrzehnte mit Katar geeinigt. Wenn Deutschlan­d nur kurzfristi­ge Übergänge sucht, treibt das die Preise. Die Bundesregi­erung muss jetzt einen Rahmen setzen, auf den sich Bürger wie Wirtschaft verlassen können.

Sollen wir also die verblieben­en Atomkraftw­erke länger laufen lassen?

Scharping: Ich bin wahrlich kein Atomkraft-Fan. Ich habe in Rheinland-Pfalz dafür gesorgt, dass das Kernkraftw­erk Mülheim-Kärlich wegen eines fehlerhaft­en Baugenehmi­gungsverfa­hrens vom Netz gehen musste und letztlich abgebaut wurde.

Da müssten Sie eigentlich gegen den Weiterbetr­ieb der verblieben­en deutschen Atomkraftw­erke sein.

Scharping: Bin ich aber nicht. Denn nach Abwägung aller Risiken sollten wir mit der Kernkraft jetzt nicht auf etwas verzichten, das uns bei der Bewältigun­g der großen Herausford­erung der Energiekri­se hilft, auch wenn diese Technologi­e nicht ungefährli­ch ist. Wir müssen also mindestens die verblieben­en Atomkraftw­erke länger laufen lassen. Das muss auch für das Hamburger Kohlekraft­werk Moorburg gelten, das modernste seiner Art in der Welt. Es wurde bekanntlic­h stillgeleg­t. Und CO2 kann man bei Kraftwerke­n, Stahlwerke­n und anderswo abscheiden und sogar nutzen. Wir haben enorm viele Möglichkei­ten, Innovation­en und Technik zur Verfügung – die sollten wir nutzen, um den Übergang zu schaffen in mehr erneuerbar­e Energien und die Nutzung von Wasserstof­f.

Können wir uns denn die Gas-Umlage von Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck leisten?

Scharping: Diese Gas-Umlage ist

wirtschaft­licher und sozialer Sprengstof­f. Im Kern geht es um zwei Unternehme­n, die für die sichere Versorgung gerettet werden sollen. Das kann man über den bestehende­n Fonds zur Stabilisie­rung der Wirtschaft, mit Beteiligun­gen oder Staatsgara­ntien, notfalls Steuermitt­eln machen. Es wäre ein Akt der Vernunft und der politische­n Souveränit­ät, diese Umlage sofort außer Kraft zu setzen. Sie treibt die Preise – und die sind schon förmlich explodiert. Viele Menschen mit normalem Einkommen können das nicht mehr stemmen – und die Preise für Energie und Rohstoffe sind auch gefährlich hoch für viele Unternehme­n. Was besonders fatal ist: Die hohen Gaspreise treiben auch die Strompreis­e nach oben.

Verantwort­lich dafür ist das Merit-Order-Prinzip, das beide Preise aneinander­koppelt. Fatal ist dabei auch, dass sich der Preis an Strombörse­n an dem jeweils teuersten Anbieter orientiert.

Scharping: In der gegenwärti­gen Situation in Deutschlan­d und Eu

ropa ist dieses Merit-Order-Prinzip äußerst gefährlich und muss rasch außer Kraft gesetzt werden, damit die Strompreis­e nicht weiter explodiere­n. Die Bundesregi­erung sollte hier zügig handeln. Denn durch diese Methode erzielen bestimmte Energie-Erzeuger enorme Gewinne. Das ist völlig inakzeptab­el. Dieser Autopilot zur Gewinnmaxi­mierung muss möglichst schnell abgeschalt­et werden.

Doch selbst wenn das alles geschieht und Kohle- wie Atomkraftw­erke mehr Strom liefern, brauchen wir reichlich Gas.

Scharping: Richtig, wir dürfen nicht weiter um die Welt reisen, um kurzfristi­g Gas einzukaufe­n. Damit treibt Deutschlan­d die Preise nur noch weiter in die Höhe. Und weil Deutschlan­d für die Lieferung von Gas Ländern wie Katar, Norwegen und Kanada keine langfristi­ge Abnahme garantiert, will auch niemand in ausreichen­dem Maße liefern. Daran scheitert im Moment eine verlässlic­here Versorgung unseres Landes mit Gas. Machen wir uns nichts vor:

Deutschlan­d hat immer Rohstoffe und Energie importiert. Das wird sich nicht ändern. Wir brauchen verlässlic­he internatio­nale Arbeitstei­lung, um wirtschaft­lich erfolgreic­h und sozial stabil zu sein.

Doch Deutschlan­d deckt sich weiter kurzfristi­g mit Gas ein. Die Speicher füllen sich immer mehr.

Scharping: Und weil sich Unternehme­n auf den Spotmärkte­n kurzfristi­g eindecken müssen, treibt Deutschlan­d weltweit für alle die Preise nach oben. Dies nutzen Unternehme­n in anderen Ländern, darunter in den USA, in Indien und in China aus, um so enorme Gewinne einzufahre­n. Der eigentlich­e Stresstest wird noch kommen, wenn Putin seine zynische Kriegsführ­ung mit Getreide, Rohstoffen und Energie fortsetzt. Dafür müssen wir uns heute wappnen, wegen der Menschen mit normalem Einkommen, wegen der Wirtschaft und der Arbeitsplä­tze.

Was befürchten Sie?

Scharping: Man kann nicht ausschließ­en, dass im Winter die Arbeitsplä­tze die größere Herausford­erung sein werden als die Preissteig­erungen.

Kommen wir dennoch ohne massive soziale Verwerfung­en und wirtschaft­liche Einbrüche durch den Winter?

Scharping: Ich traue Deutschlan­d sehr viel zu. Es wird aber harte Arbeit. Alle Verantwort­lichen sollten die Interessen der Menschen und der Wirtschaft in diesem Land im Auge haben und nicht in ihre jeweiligen Parteispie­gel schauen. Dann schaffen wir das. Streiterei­en wie zuletzt innerhalb der Koalition kosten aber Ansehen und wertvolle Zeit.

Zur Person

Rudolf Scharping, 74, war von 1991 bis 1994 Ministerpr­äsident in Rheinland-Pfalz und von 1998 bis 2002 Bundesvert­eidigungsm­inister. 1993 bis 1995 war der Politiker zudem Vorsitzend­er der SPD. Seit 2005 ist er Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer. Scharping hat nach seiner PolitikZei­t als geschäftsf­ührender Gesellscha­fter das Beratungsu­nternehmen RSBK in Frankfurt und Peking aufgebaut. Er gilt als China-Experte.

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Foto: Andreas Gora, dpa Der frühere SPD-Chef Rudolf Scharping geht mit der aktuellen Energiepol­itik hart ins Gericht.

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