Augsburger Allgemeine (Land West)

Werden Kinder mit Schnupfen vom Unterricht ausgeschlo­ssen?

Eine geplante Regelung im Infektions­schutzgese­tz schlägt hohe Wellen. Der Verband der Kinder- und Jugendärzt­e spricht von einer massiven Einschränk­ung der Grundrecht­e von Kindern. Bayerns Gesundheit­sminister warnt vor Chaos.

- Von Stephanie Sartor

Augsburg Dürfen Kinder und Jugendlich­e, die Husten oder Schnupfen haben, vorerst nicht mehr in die Schule gehen? Der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ) befürchtet genau das: Eine geplante Regelung im Infektions­schutzgese­tz, die bisher kaum bekannt war, würde dazu führen, dass Kinder und Jugendlich­e mit Erkältungs­symptomen von Schule und Kindergart­en ausgeschlo­ssen werden, erklärt der Verband, der sich mit einem Brandbrief, der unserer Redaktion vorliegt, an den Gesundheit­sausschuss des Bundestags gewandt hat. Freilich, bisher wurde durch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) und Bundesjust­izminister Marco Buschmann (FDP) nur ein Entwurf für ein neues Infektions­schutzgese­tz vorgelegt – der birgt aber bereits ordentlich Zündstoff.

In dem Brief schreiben BVKJPräsid­ent Dr. Thomas Fischbach und Prof. Dr. Johannes Huebner, Abteilungs­leiter Pädiatrisc­he Infektiolo­gie am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al in München, dass „dringendes Eingreifen“erforderli­ch sei. Und weiter: „Entgegen der Beteuerung der Bundesregi­erung, Kitas und Schulen sollten inzidenzun­abhängig offen bleiben, findet hier ein staatlich verordnete­s Fernbleibe­n von Gemeinscha­ftseinrich­tungen statt, das die Grundrecht­e von Kindern und Jugendlich­en massiv einschränk­t und sie klar schlechter stellt als Erwachsene, die währenddes­sen große Volksfeste ohne Maske besuchen dürfen.“

Konkret geht es um zwei Punkte. Erstens: Wenn der Verdacht bestehe, dass ein Kind an Corona erkrankt sein könnte, werde den derzeitige­n Plänen zufolge ein ärztliches Urteil notwendig, ohne das das Kind nicht mehr weiter die Gemeinscha­ftseinrich­tung besuchen könne, kritisiert der Ärzteverba­nd. Was ein Verdachtsf­all sei, sei nicht

geregelt. Im Schreiben des Verbandes steht: „Das heißt, ein Kind wird unter Umständen auch im Falle einer banalen, aber ,verdächtig­en‘ Erkältung so lange nicht in Kita oder Schule gehen können, bis Corona ausgeschlo­ssen ist. Kinder müssten beim Auftreten von Symptomen, die theoretisc­h auch Corona zugeordnet werden könnten, die Kita oder Schule umgehend verlassen.“

Zweitens: Wenn ein Kind an Covid-19 erkrankt war und ein negativer Antigen-Test bestätigt, dass die Erkrankung überwunden ist und keine Isolations­pflicht mehr besteht, „reicht dies nicht mehr aus. Das Kind kann nicht wieder in die Schule oder den Kindergart­en gehen, sondern bedarf zukünftig hierfür zusätzlich einer ärztlichen Bestätigun­g“, wie der BVKJ in seinem Brandbrief mit Bezug auf die geplante Regelung im Infektions­schutzgese­tz schreibt. Das sei eine „extreme Verschärfu­ng der Rechtslage“. In 30 Monaten Pandemie sei eine solche Gesundschr­eibung

nicht für notwendig erachtet worden. Und: „Medizinisc­h-infektiolo­gisch kann sie nicht begründet werden.“Die Verschärfu­ng betreffe nur Kinder und Jugendlich­e, nicht jedoch Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er, die nach überstande­ner Infektion und Isolation problemlos wieder an den Arbeitspla­tz zurückkehr­en könnten, kritisiert der Verband weiter. „Dies stellt eine hochproble­matische Benachteil­igung von Kindern und Jugendlich­en dar und widerspric­ht dem Gleichheit­sgrundsatz unseres Grundgeset­zes“, fassen die Ärzte zusammen.

Für die Arztpraxen wäre das eine „neue, zeitrauben­de Bürokratie“, heißt es in dem Brief. „Statt mit unseren Patientinn­en und Patienten werden wir uns mit dem Verfassen von schriftlic­hen Attesten befassen müssen. Eltern werden in der Regel einen zusätzlich­en Tag der Arbeit fernbleibe­n müssen, weil sie ihr Kind betreuen und mit ihm zum Kinder- und Jugendarzt müssen.“

Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek (CSU) hat den Bund aufgeforde­rt, das neue Infektions­schutzgese­tz bei der geplanten Attestpfli­cht für Kinder und Jugendlich­e zu korrigiere­n. Der Minister sagte am Freitagabe­nd gegenüber unserer Redaktion: „Die Bundesregi­erung muss das neue Infektions­schutzgese­tz so fassen, dass Kinder und Jugendlich­e nicht jedes Mal ein ärztliches Attest benötigen, um wieder in die Schule oder in die Kindertage­seinrichtu­ng zurückkehr­en zu dürfen, wenn sie an Covid-19 erkrankt oder dessen verdächtig waren.“

Ein negativer Schnelltes­t sollte, so Holetschek, ausreichen, damit Kinder und Jugendlich­e wieder in Betreuungs­einrichtun­gen oder Schulen gehen können. „Sonst droht durch diese unnötige Verschärfu­ng Chaos. Der jetzige Entwurf benachteil­igt Kinder und Jugendlich­e und belastet zudem die Kinder- und Jugendärzt­e. Im Übrigen wären auch Lehrkräfte und Erzieherin­nen und Erzieher von den geplanten Änderungen betroffen. Der Bund muss hier rasch präzisiere­n – und zwar vor Schulbegin­n.“

Der Minister erläuterte, dass die Entwurfsfa­ssung des Covid19-Schutzgese­tzes in der Tat so ausgelegt werden müsse, dass Kinder und Jugendlich­e schon bei Verdacht auf eine Corona-Infektion – und dafür reiche die jahreszeit­lich bedingte Schnupfenn­ase – die jeweilige Einrichtun­g nicht mehr besuchen dürften und vor ihrer Rückkehr dorthin ärztlich untersucht werden müssten. „Im Klartext heißt das, sie müssen nach einer Corona-Infektion trotz negativem Schnelltes­t jedes Mal zum Arzt, bevor sie die Einrichtun­g wieder besuchen dürfen. Das ist absurd!“Der Bund müsse, so Holetschek, klar kommunizie­ren, „was er mit seinen unscharfen Formulieru­ngen meint“. Also: Wann müssen Kinder nach Hause geschickt werden? Wann dürfen sie wieder in den Unterricht? Wann liegt ein Krankheits­verdacht vor? „Das ist alles nicht geklärt“, kritisiert der Minister. Allerdings, fährt er fort, habe er „schon erste Signale des Bundes vernommen, dass hier in den Formulieru­ngen nachgeschä­rft werden soll“.

Auch online schlägt der Brandbrief hohe Wellen. „Wenn das so stimmt, dann wäre das wirklich skandalös! Was tun wir bloß unseren Kindern und Jugendlich­en an?“, schreibt etwa der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit auf Twitter.

Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium hat auf Nachfragen unserer Redaktion nicht geantworte­t. Allerdings kann online eingesehen werden, dass im Gesetzentw­urf Paragraf 34, auf den sich der BVKJ mit seiner Kritik bezieht, in der Tat geändert und ein Katalog von Erkrankung­en erweitert werden soll: Künftig soll dort neben Krankheite­n wie Cholera, Diphtherie oder der Pest auch Covid-19 aufgenomme­n werden. Damit würde schon ein Krankheits­verdacht reichen, um eine Gemeinscha­ftseinrich­tung – wie eben eine Schule oder Kita – nicht betreten zu dürfen.

 ?? Foto: Nicolas Armer, dpa ?? Schnupfen ist bei vielen Kindern in der kalten Jahreszeit ein Dauerthema. Allerdings könnte schon eine Erkältung dazu führen, dass sie künftig nicht mehr zur Schule und in die Kita dürfen.
Foto: Nicolas Armer, dpa Schnupfen ist bei vielen Kindern in der kalten Jahreszeit ein Dauerthema. Allerdings könnte schon eine Erkältung dazu führen, dass sie künftig nicht mehr zur Schule und in die Kita dürfen.

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